Die Armenische Sackgasse

Auf Staaten, die den Massenmord an den Armeniern als Völkermord bewerten, reagiert Ankara harsch. In der Türkei mehrt sich nun Kritik an dieser „Genozid-Diplomatie“.

Istanbul, 15.März. Nun also
auch noch die Schweden. Unmut und Drohungen hatte es in der Türkei schon
gegeben, als zu Monatsbeginn der Auswärtige Ausschuss des Amerikanischen
Repräsentantenhauses den Massenmord an den Armeniern im Osmanischen
Reich als
Völkermord einstufte - und Präsident Obama daran erinnerte, dass er im
Wahlkampf versprochen hatte, er werde dies als Präsident ebenfalls tun.
Nachdem
auch das schwedische Parlament in einer knappen Entscheidung vergangene
Woche
eine Resolution angenommen hat, in welcher der Massenmord an den
„osmanischen"
Armeniern im Jahre 1915 als Genozid bewertet wird, lief in der Türkei
die
übliche regierungsamtliche Empörungsmachinerie an: Es kam zu erbosten
Äußerungen der politischen Führung, Absagen von lange geplanten
Ministerreisen
und der Abreise der Botschafterin zu „Konsultationen".

Unterstützt wurde das von reichlich medialem Krakeel, bei dem fast
unterging,
dass Schweden einer der treuesten Verbündeten ist, den die Türkei in der
EU
hat. Die Vorstellung, ein Land könne ein Freund der Türkei sein und
dennoch ein
Parlament haben, dass die „Ereignisse von 1915" als Völkermord
betrachtet, hat
viele Türken nicht überzeugt. Schwedens Botschafter in Ankara erinnerte
daher
vorsichtshalber daran, dass die Resolution und die grundsätzliche
Haltung des
Landes zur Türkei zwei verschiedene Dinge seien und dass alle Parteien
im
Stockholmer Parlament den EU-Beitritt der Türkei unterstützten.

Geschlossen sind die Reihen der türkischen Entrüstung allerdings ohnehin
nicht.
Es häuft sich Kritik an dem, was Spötter „die türkische
Genozid-Diplomatie"
nennen. Deren wichtigstes und mit erheblichem Aufwand seit den frühen
achtziger
Jahren verfolgtes Ziel sei es, die Verabschiedung weiterer
Armenien-resolutionen
in der Welt zu verhindern. Doch dieses Vorgabe sei ebenso aussichtslos
wie
überflüssig, sagen die Kritiker. Einer von ihnen ist Yavus Baydar, ein
Kolumnist der Zeitung „Zaman", der in Schweden studiert hat. Baydar
bezweifelt
zwar auch, dass Parlamente darüber entscheiden sollen und können, mit
welchem
Wort vergangene Verbrechen am besten zu belegen seien. Doch noch größere
Einwände hat er gegen die Art, wie Ankara auf dieses parlamentarische
Laientheater reagiert. On man nun von einem Genozid spreche oder eine
andere
Bezeichnung bevorzuge:Es handele sich bei den Massakern von 1915 um eine
„menschliche Tragödie erster Ordnung", deren „systematisches Leugnen"
durch die
Türkei unverständlich und den Interessen des Landes abträglich sei.
Leider befinde
sich Ankara aber immer noch unter dem Einfluss von Nationalistischen
Diplomaten
und Akademikern, die die Deutungshoheit über das armenische Thema
übernommen
hätten, so Baydar.

Der in Ankara an der englischsprachigen „Middle East Technical
University" Politikwissenschaft
lehrende Professor Ihsan Dagi fürchtet, dass die Regierung bereit sein
könne,
für die „armenische Frage" ihre außenpolitischen Errungenschaften der
vergangenen Jahre aufzugeben. Zwar nennt Dagi die Entscheidungen der
amerikanischen und der schwedischen Abgeordneten „übertrieben", aber das
gelte
ebenso für Ankaras Reaktion darauf: „Soll die Türkei etwa alle
Beziehungen zu
Staaten abbrechen, deren Gesetzgeber die ereignisse von 1915 als Genozid
anerkennen?"

Reaktionen wie der Rückruf von Botschaftern zu Konsultationen und die
Drohung
mit dem Abbruch diplomatischer Beziehungen (die allerdings so nie
ausgesprochen
wurde) entspächen eher den nationalistischen oppositionsparteien CHP und
MHP,
sagt Dagi. Er warnt sie AKP davor, sich mit der Opposition auf einen
Wettbewerb
über die Frage einzulassen, wer das größere Türkentum in sich trage.
Dabei
könne die Regierung nur verlieren. Auch gefährde sie die Verwirklichung
des
Leitsatzes, der Außenminister Davutoglu zugeschrieben wird, laut dem die
Türkei
„null Probleme mit Nachbarn" haben wolle. Es sei schlimm genug, dass die
Regierung dem nationalistischen Druck im Innern sowie aus Baku
nachgegeben
habe, die türkische Annäherung an Armenien von Fortschritten im
Armenisch-Aserbaidschanischen Konflikt um Nagornyj Karabach abhängig zu
machen, sagt Dagi.

In die beginnende Debatteeingegriffen hat auch die in Istanbul und
Berlin
beheimatete Europäische Stabilitätsinitiative (Esi), deren ebenso
fundierte wie mitunter zugespitzte Studien zur Türkei meist viel
Beachtung
finden. In der jüngsten Studie heißt es, die „Genozied-Diplomatie" sei
gescheitert und schade türkischen Interessen. Die Türkei investiere
beachtliches politisches Kapital, um sich der internationalen
Anerkennung des
Völkermords an den Armeniern zu widersetzen. „Aber das ist eine
Schlacht, die
die Türkei nicht gewinnen kann".

Eine Niederlage droht auch deshalb, weil sich die offizielle Türkei aus
einer
Diskussion über das Thema ausklinkt, die immer mehr über und weniger mit
dem
Land geführt wird. Überspitzt gesagt: Wenn die Türken ihren Genozid
nicht
zugeben, übernehmen das eben andere für sie, zum Beispiel die Deutschen.
So
teilte der SPD-Bundestagsabgeordnete Gernot Erler, bis zum vergangenen
Jahr Staatsminister im Auswärtigen Amt, im April 2005 im Namen seiner
Fraktion
mit, dass der Bundestag die „deutsche Mitverantwortung" im Völkermord
von 1915
anerkenne. Das geschah sehr zum Verdruss der türkischen
Hauptverantwortlichen.

Ankara argumentiert oft, ein Eingeständnis, es habe einen Genozid
gegeben,
werde Kompensationsforderungen von Armeniern Tür und Tor öffnen. Laut
den
Autoren der Esi-Studie handelt es sich dabei jedoch nur um ein
Scheinargument:
„Es gibt nicht die geringste Verbindung zwischen einer Anerkennung des
Völkermords auf der einen und Restitutionsansprüchen oder
Kompensationsforderungen auf der anderen Seite."