Brückenbeschwörung fast ohne G-Wort

Obama hat in Ankara nicht von „Genozid“ Gesprochen, als es um die Armenien-Frage ging. Er präsentierte sich als mächtiger Fürsprecher eines türkischen EU-Beitritts.

Von Michael Martens

Ankara, 06. April.  Es war kein
gewöhnlicher Staatsbesuch, und doch begann Barack Obamas Aufenthalt in Ankara
am Montag wie nahezu jede offizielle Visite dort: Das türkische Protokoll sieht
am Beginn stets eine Kranzniederlegung am pompösen Grabmal vor, das die
Türkische Republik ihrem 1938 verstorbenen Gründer Kemal Atatürk errichtet hat.Auch
Obama kam um diese quasireligiöse Ehrerbietung nicht herum. Am Ende steht dabei
jeweils ein Eintrag in das Kondolenzbuch. Was der amerikanische Präsident
seinen Gastgebern am Montag in ihr republikanisches Stammvaterbuch geschrieben
hat, dürfte zumindest bei den Kemalisten volle Zustimmung finden: Er fühle sich
geehrt, Kemal Atatürk seine Anerkennung zu zollen, denn der habe die Türkei auf
den Weg der Demokratie gebracht, schrieb Barack Obama.

Dann nahm Obamas erster „echter Staatsbesuch", wie die Medien in der
Türkei ihn wieder und wieder angekündigt hatten, seinen Lauf. Dass Obama die
Türkei als Bühne gewählt hatte, um sich an die muslimische Welt zu wenden, hat
dem Selbstwertgefühl der Türken und ihrer immer selbstbewusster agierenden
Diplomatie einen unübersehbaren Schub gegeben. Die Türkei als Schlüssel, mit
dem die Vereinigten Staaten das zugefallene Tor zur muslimischen Welt wieder
öffnen möchten - das war ein Sprachbild, das in den vergangenen Tagen häufig in
den Zeitungen des Landes auftauchte. Wie erwartet nutzte Obama seine Ansprache
im türkischen Parlament dann auch dazu, einen Versöhnungsaufruf an die
muslimische Welt zu richten. „Lassen Sie mich das so klar wie nur möglich
sagen: Die Vereinigten Staaten sind nicht in einem Krieg mit dem Islam", sagte
Obama und forderte einen gemeinsamen Kampf des Westens und der islamischen Welt
gegen den Terrorismus. Auch wiederholte er seinen Appell für eine Aufnahme der
Türkei in die EU. Natürlich durfte dabei das gängige (und nicht bei allen
Türken beliebte) Bild von der Brücke zwischen West und Ost nicht fehlen, welche
die Türkei sei. Obama sprach davon, dass die Türkei mit Europa seit
Jahrhunderten eine gemeinsame Geschichte und Kultur teile. Obama mahnte die
Abgeordneten aber auch zu einer Fortsetzung der Reformpolitik.

Vor
seinem Auftritt im Parlament war er zunächst mit Staatspräsident Gül
zusammengetroffen, den er gerade bei dem schwierigen Nato-Gipfel am Wochenende
gesehen hatte. Immerhin gilt der Streit um die Kandidatur des Dänen Rasmussen
für den Posten des Nato-Generalsekretärs inzwischen als beigelegt, auch wenn
sich die türkischen Medien am Montag in Spekulationen darüber ergingen, welche
Zugeständnisse die Allianz den Türken für ihr verspätetes Einlenken in dieser
Personalfrage tatsächlich gemacht habe. Statt darauf öffentlich einzugehen,
äußerte sich Obama nach seinem Treffen mit Gül zu einem anderen Großthema der
türkisch-amerikanischen Beziehungen: Er setzte sich für den Beginn von
Gesprächen zwischen der Türkei und Armenien ein. Auffällig waren zwei
Formulierungen, die er dabei wählte: So sagte Obama, ein türkisch-armenischer
Dialog könne bei den Bemühungen um eine Normalisierung der Beziehungen beider
Staaten „sehr schnell" Früchte tragen. Und er fügte hinzu, nun gelte es, die
Türkei und Armenien bei ihrer Annäherung zu unterstützen.  Diese Wortwahl mit Blick auf die kommenden
Wochen ist bemerkenswert, war doch seit längerem darüber spekuliert worden, ob
Obama das „G-Wort" (vom Genozid der Türken an den Armeniern 1915) benutzen
werde, wie er es der armenischen Lobby in seiner Heimat als Wahlkämpfer
versprochen hatte.

Die
politische Elite in Ankara hatte in jüngster Zeit immer wieder gewarnt, sollte
Obama „die Ereignisse" als Genozid bezeichnen, könne das den Annäherungsprozess
der Türkei an Armenien torpedieren.  Nach seinem Gespräch mit Gül hatte Obama
jedoch die Frage, ob er unverändert der Ansicht sei, dass es sich bei den
Vorgängen von 1915 um einen Genozid gehandelt habe, unmissverständlich bejaht:
Seine Ansichten seien bekannt, und er habe sie nicht geändert. Doch auch als
Obama im Parlament über Armenien sprach, kam das Wort „Genozid" nicht vor.
Dafür erinnerte er daran, dass sich auch die Vereinigten Staaten schwertun mit
„unserem Erbe der Behandlung der eingeborenen Amerikaner".

In einem
Blick nach vorn pries Obama die Beziehungen zwischen der Türkei und seinem Land
als „Modellpartnerschaft", und er machte jenseits von ungefähren Bildern auch
handfeste Zusagen: So kündigte er eine weitere Unterstützung der Vereinigten
Staaten im Kampf gegen die kurdische Terrorgruppe PKK an.

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Bewegung in der Armenien-Frage: 
Betriebsamkeit im Dreieck Ankara - Eriwan -Baku

Wenn
zwei sich einigen, zürnt der Dritte: Baku ist nicht angetan von der Annäherung
zwischen der Türkei und Armenien, die von den Vereinigten Staaten unterstützt
wird. Der aserbaidschanische Außenminister Elmar Mammadiarow hatte schon wenige
Tage vor Barack Obamas Ankunft in Ankara gewarnt, dass die Türkei gegen die
nationalen Interessen seines Landes verstoße, sollte sie Beziehungen zu Eriwan
aufnehmen, bevor der Konflikt um Nagornyj Karabach gelöst ist: „Wenn die Grenze
geöffnet wird, bevor die armenischen Truppen aus den besetzten Territorien
Aserbaidschans abgezogen sind, läuft das den nationalen Interessen Aserbaidschans
zuwider. Wir haben diese Einschätzung der türkischen Führung übermittelt",
sagte Mammadiarow.

Bald
werden Türken und Aserbaidschaner von Angesicht zu Angesicht darüber reden: Vom
13. bis zum 15. April soll in Baku eine Konferenz über den Stand der aserbaidschanisch-türkischen
Beziehungen stattfinden, bei der die neue Armenien-Politik Ankaras im
Mittelpunkt stehen wird.

Spätestens
seit dem Eriwan-Besuch des türkischen Präsidenten Gül letzten September ist
viel von einer beginnenden Normalisierung der Beziehungen zwischen der Türkei
und ihrem schwierigsten Nachbarn die Rede. Ankara und Eriwan unterhalten keine
Botschaften im jeweils anderen Land. Die Türkei hält seit 1993 auch ihre knapp
270 Kilometer lange Grenze zu Armenien geschlossen, um gegen die Besetzung des
völkerrechtlich zu Aserbaidschan gehörenden Gebietes Nagornyj Karabach durch
Armenien zu protestieren.  Zwischen den
beiden turksprachigen Hauptstädten Ankara und Baku bestehen seit dem Zerfall
der Sowjetunion enge Beziehungen, welche die Regierung Erdogan nicht aufs Spiel
setzen will. Dennoch ist sie daran interessiert, das Verhältnis zu Armenien zu
verbessern. Das scheiterte bisher unter anderem daran, dass Eriwan sich dem
türkischen Vorschlag widersetzte, eine internationale Historikerkommission
einzusetzen, die sich mit der Frage befassen soll, ob die Massaker an den
Armeniern in der Endphase des Osmanischen Reiches ein Genozid waren (wie es die
Mehrheit Historiker sieht), oder nicht (wie es die Lesart der Türkei ist). Doch
das Interesse Armeniens an einer Lockerung seiner Isolation ist offensichtlich,
und für die Amerikaner ist die Bedeutung des Landes seit dem
russisch-georgischen Krieg im vorigen Jahr nochmals gestiegen.

Einen
weiteren Zwischenschritt bei der Annäherung könnte es am 16. April geben. Dann
wird der türkische Außenminister Babacan in Eriwan erwartet. Wie schnell sich
das kaukasisch-türkisch-amerikanische Interessenknäuel entwirren lässt, hängt
aus Ankaraner Sicht allerdings auch davon ab, ob Obama in seiner Mitteilung am
24. April, die als Beginn der Verbrechen gegen die Armenier im Jahr 1915 gilt,
von einem „Genozid" spricht oder dieses Wort vermeidet - wie er es am Montag
getan hat. (tens.)

 

F.A.Z.   Ausgabe  82 F    Di  7.April 2009  
Politik  Seite 2