Lieber Gerhard Schröder,
ich finde es sehr schade, dass Du den Umgang mit mir eingestellt hast, nur weil ich vor sechs Jahren angekündigt habe, die bessere sozialdemokratische Partei und deren Kanzlerkandidatin zu wählen.
Nun bin ich dabei, mich wieder der SPD zuzuwenden, weil ich nach dem Wahlsieg von Olaf Scholz in Hamburg hoffe, dass die gute alte Sozialdemokratie, der wir so vieles verdanken, wieder zu sich selbst findet und Sigmar Gabriel in den Vorstand der Weight Watchers wechselt.
Um mich selbst auf den letzten Stand zu bringen, habe ich ein wenig gegoogelt und bin dabei auf ein Interview gestoßen, das Du der “Peiner Allgemeinen Zeitung” am 26.2. gegeben hast.
Darin ging es um die Rolle der Türkei im Europa von morgen. Ich will nicht kleinlich sein und verzichte deswegen darauf, mich mit Deiner Behauptung auseinanderzusetzen, “die historischen Stätten” der klassischen Antike und der Bibel lägen “zu einem großen Teil auf dem Gebiet der heutigen Türkei”, sei’s drum.
Von Katmandu aus betrachtet, liegen Köln und Kopenhagen auch nah beieinander. Ich will auf etwas Anderes hinaus.
Auf die Feststellung des Interviewers, es gäbe in Europa “Skepsis über den türkischen Umgang mit der Geschichte, etwa mit der Erinnerung an die Massaker an der armenischen Minderheit während des Ersten Weltkriegs, die viele als Völkermord einstufen”, sagst Du: “Manche setzen die Vorgänge sogar mit dem Holocaust gleich. Das ist unzulässig und läuft auf eine Relativierung des Holocausts hinaus, der vor allem die Deutschen widersprechen müssen.”
Wenn ich Dich richtig verstanden habe, liegt das Problem also nicht darin, dass während der “Vorgänge” im Jahre 1915 etwa anderthalb Millionen Armenier ums Leben gekommen sind und die Türken bis heute behaupten, sie hätten sich gegen die Armenier nur zur Wehr gesetzt, weil diese mit den Russen paktiert hatten; das Problem liegt darin, dass es “unzulässig” und eine “Relativierung des Holocaust” wäre, den Massentod der Armenier mit dem Holocaust zu vergleichen oder gar gleichzusetzen.
Das hört sich an, als wolltest du sagen: “Wir haben das Copyright auf den Holocaust! Und das lassen wir uns von keinem wegnehmen!”
Nun ist es völlig egal, wie man die “Vorgänge” bezeichnet, als armenischen Holocaust, als Völkermord, als Massaker. Tatsache ist: die Türken haben beschlossen, die Armenierfrage endgültig zu lösen, so wie die Nazis 25 Jahre später zur Endlösung der Judenfrage angetreten sind.
Der einzige Unterschied zwischen dem einen Massenmord und dem anderen lag in der Wahl der Mittel. Der größte Teil der Armenier ist bei Todesmärschen umgekommen, an Erschöpfung, Hunger und Durst, die Juden wurden industriell und zeitsparend vom Leben zum Tode befördert.
Es gibt keinen seriösen Historiker, der die Historizität des Holocaust an den Juden bestreiten würde, und es gibt keinen seriösen Historiker, der die Historizität des Völkermords an den Armeniern bestreiten würde.
Freilich, so wie es Historiker wie David Irving gibt, die Auschwitz bagatellisieren, gibt es auch Historiker, die der Meinung sind, die Armenier hätten die Türken herausgefordert und ihr Schicksal selbst verschuldet.
Nun würde ich gerne wissen: Wo fängt ein Holocaust an? Bei sechs Millionen? Sind anderthalb Millionen nicht genug?
Muss Hightech zum Einsatz kommen?
Ist der Holocaust nicht nur Teil der deutschen Staatsräson sondern auch die Klammer, die Deutsche und Juden auf ewig verbindet?
Kann es deswegen keinen Holocaust der Türken an den Armeniern gegeben haben, weil der Holocaust eine deutsche Erfindung ist, wie die Melitta-Filtertüte, der Büstenhalter und die Homöopathie?
Die Behauptung, die Anerkennung des Völkermords an den Armeniern würde den Holocaust relativieren, ist nicht nur frivol, sie gehört auch in das Kapitel des “deutschen Sündenstolzes”.
Beim “Bürgerfest” zum fünften Jahrestag der Einweihung des Berliner Holocaust-Mahnmals meinte ein Redner, andere Völker würden “uns um dieses Mahnmal beneiden”; und das hörte sich an, als wollte er eigentlich sagen, sie beneiden uns um den Holocaust, das größte Gemeinschaftsprojekt der neueren deutschen Geschichte.
Gerade Du, lieber Gerhard, als Ehrenvorsitzender des deutschen “Nah- und Mittelostvereins NUMOV e.V.”, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, “als Dienstleister die bilateralen Wirtschaftsbeziehungen zwischen Deutschland und den Ländern des Nahen und Mittleren Ostens” zu fördern, wärest der Richtige, um den Türken zu sagen, es würde ihre Aussichten, in die EU aufgenommen zu werden, enorm befördern, wenn sie sich endlich bei den Armeniern für die “Vorgänge” von 1915 entschuldigen würden.
Einige Tausend türkische Intellektuelle haben das bereits getan und sind dafür als “Verräter” und “Nestbeschmutzer” verleumdet worden. In vier Jahren, 2015, wird es 100 Jahre her sein, dass der Völkermord an den Armeniern seinen Anfang nahm. Er wird erst vorbei sein, wenn sich die Türken zu ihrer historischen Schuld und Verantwortung bekannt haben.
Besser spät als nie. Es hat auch hundert Jahre gedauert, bis sich Deutschland, vertreten durch die Ministerin Wieczorek-Zeul, im Jahre 2004 für das Massaker entschuldigte, das der kaiserliche General Lothar von Trotha 1904 an den Hereros und Namas begangen hatte.
“Wir Deutschen akzeptieren unsere historische und moralische Verantwortung und die Schuld, die Deutsche damals auf sich geladen haben”, sagte sie bei einer Zeremonie in Waterberg/Namibia. Das war doch vorbildlich, und es hat uns nicht einen müden Euro gekostet!
Also, lieber Gerhard, statt vor einer “Relativierung” des Holocaust zu warnen, rede doch lieber Deinen türkischen Freunden ins Gewissen, sie sollten sich ihrer eigenen Geschichte stellen.
Wenn Du das machst, werde ich sofort wieder SPD wählen. Und keiner weiß es besser als Du: Es kommt auf jede Stimme an!
In alter Freundschaft
Dein HMB