Zwar wurde das Verfahren mit
Rücksicht auf die Novellierung des umstrittenen Strafrechtsartikels 301
ausgesetzt, doch die jetzige Entscheidung belegt die schlimmsten
Befürchtungen von Bürger- und Menschenrechtlern im In- und Ausland, die
die Novelle als reine Kosmetik betrachten: Auch die novellierte Fassung
des Strafrechtsartikels 301, mit der ja angeblich die Pönalisierung von
dissidenten Meinungen verhindert werden sollte, erlaubt der
Rechtsprechung weiterhin eine höchst restriktive Anwendung.
Das
Gericht erkannte darauf, dass Ragıp Zarakolu mit der Veröffentlichung
von „The Truth will set Us Free“ (dessen Autor nachdrücklich an Türken
und Armeniern appelliert hatte, größeren Realitätssinn zu zeigen) die
Türkische Republik und ihre Gründer beleidigt habe. Der Einwand des
Angeklagten, dass er das Recht zur Kritik besitze, blieb
unberücksichtigt. Ein Formfehler kann aber möglicherweise zur Aufhebung
des Urteils führen, denn das Gericht hat es versäumt, das türkische
Justizministerium einzuschalten, wie es der reformierte Artikel 301
vorsieht.
Ragıp Zarakolu erklärte, dass er Berufung gegen dieses
Urteil einlegen werde. Er habe es zwar halb erwartet, “aber ich sehe
mich nicht als Verurteilten. Dies ist ein Urteil gegen die offizielle
Geschichte und für die Leugnung!“ Herr Zarakolu erklärte des Weiteren,
dass derartige Urteile viele Autoren in der Türkei mundtot gemacht
hätten; er wolle aber weiterhin gegen die Einschränkung der
Meinungsfreiheit kämpfen. Nach Angaben des türkischen
Justizministeriums sind allein im Jahr 2006 1.700 Personen nach § 301
gerichtlich verurteilt worden.