Merkels Agenda in Ankara

Vor dem Türkei-Besuch von Bundeskanzlerin Angela Merkel sind die Differenzen zwischen Berlin und Ankara deutlich geworden. Welche Streitthemen gibt es zwischen Deutschland und der Türkei?

Mit einer ganzen Reihe von strittigen Themen im Gepäck reist die
Kanzlerin an diesem Montag zu zweitägigen Gesprächen in die Türkei. In
der Integrationsdebatte, beim Thema EU sowie bei der Frage nach dem
Umgang mit dem iranischen Atomprogramm äußerten Angela Merkel und der
türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan bereits vorab
gegensätzliche Meinungen. „Es wird viel Interessantes zu besprechen
geben", erklärte Merkel vor ihrer Abreise. Das ist eine Untertreibung.

Von ihrem Naturell und Politikstil her sind Merkel und Erdogan sehr
verschieden. Der Kanzlerin wird häufig vorgeworfen, als vorsichtige
Taktiererin mit ihrer Meinung zu oft hinterm Berg zu halten. Erdogan
dagegen zögert nicht, dezidierte Auffassungen zu allen Politik- und
Lebensbereichen zu verkünden. Keiner spricht die Sprache des anderen.
Dennoch hätten die beiden Politiker ein gutes persönliches Verhältnis
zueinander, hieß es vor Merkels erstem Türkei-Besuch seit vier Jahren
auf deutscher Seite. „Sie schätzen sich gegenseitig" und führten „sehr
offene, freundschaftliche und klare Gespräche".

Die werden auch gebraucht bei der Begegnung in Ankara. Nach dem für
ausländische Staatsgäste obligatorischen Besuch am Mausoleum des
türkischen Staatsgründers Atatürk kommt Merkel am Montagnachmittag mit
Erdogan zusammen; später trifft sie ihn noch zum Abendessen, und auch am
Dienstag in Istanbul werden sich die beiden Politiker noch einmal
sehen. Merkel spricht außerdem mit Staatspräsident Abdullah Gül, einem
überzeugten EU-Anhänger.

Das Thema EU wird auch einer der Schwerpunkte in Merkels Gesprächen mit
Erdogan sein. Schon im Vorfeld lehnte der türkische Premier den
Vorschlag der Bundeskanzlerin ab, statt der EU-Mitgliedschaft eine
„privilegierte Partnerschaft" mit Europa zu akzeptieren. Auch die
Zypern-Frage dürfte angesprochen werden. Die Türkei weigert sich, ihre
Häfen für Schiffe aus der zur EU gehörenden griechischen Republik Zypern
frei zu geben, da der türkische Norden der Insel immer noch einem
Handelsboykott unterliegt. Merkel wird betonen, die Türkei müsse ihre
Häfen öffnen - Erdogan wird dem entgegenhalten, dass die EU ihr 2004
gegebenes Versprechen, die Isolierung der türkischen Zyprer zu beenden,
bisher nicht eingehalten habe.

Streit gibt es auch um den richtigen Weg in der Integrationspolitik.
Merkel lehnt Erdogans Forderung ab, türkische Gymnasien in Deutschland
einzurichten. Demonstrativ erklärte sie vor ihrer Abreise, die Türken in
Deutschland müssten die deutsche Sprache lernen. In Istanbul trifft sie
sich mit Sprachlehrern des Goethe-Instituts, die Deutschkurse für
türkische Nachzügler vor deren Umzug in die Bundesrepublik geben.

In Berlin hieß es, das Thema Integration sei mit Erdogan schon immer
etwas umstritten gewesen. Vor zwei Jahren hatte der türkische Premier in
Köln davor gewarnt, die Türken in Deutschland zu germanisieren:
„Assimilierung ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit", sagte er
damals. Auch in Deutschland sollen die Türken ihre türkischen Wurzeln
nicht vergessen. Daran denke ja auch niemand, erklärte Merkel vor ihrem
Abflug.

Bei internationalen Themen liegen die Positionen ebenfalls auseinander.
Deutschland will im Streit um das iranische Atomprogramm über Sanktionen
nachdenken, wie Merkel unterstrich. Erdogan dagegen lehnt Sanktionen
gegen seinen Nachbarn strikt ab, weil die Türkei wirtschaftliche Folgen
für sich selbst befürchtet. Allerdings wächst auch in Ankara die
Verärgerung über die Unfähigkeit der Iraner, verlässliche Aussagen bei
dem Thema zu treffen. Auch Erdogan sei frustriert, sagen türkische
Diplomaten.

Zu den brisanten Themen gehört auch der schwierige Annäherungsprozess
mit Armenien. Am Wochenende machte der Zentralrat der Armenier in
Deutschland - die Dachorganisation der rund 60 000 Exilarmenier - Druck:
Merkel solle sich für die Anerkennung der Massaker 1915/16 im
Osmanischen Reich als Völkermord einsetzen, wie es „in der seriösen
Geschichtsschreibung international unbestritten ist". Eine
Historiker-Kommission, wie Ankara sie wolle, wäre nur „ein weiteres
Leugnungsinstrument".

Dass Merkel in Ankara Position im Sinne der Armenier bezieht, ist
fraglich. Erst kürzlich hatte das Auswärtige Amt erklärt, die
Aufarbeitung sei „in erster Linie Sache der beiden betroffenen Länder".
Parlamentsbeschlüsse in den USA und in Schweden zum Thema hatten zu
diplomatischen Verstimmungen geführt: Der Auswärtige Ausschuss des
US-Repräsentantenhauses hatte die Massaker während des Ersten
Weltkrieges, denen bis zu 1,5 Millionen Armenier zum Opfer fielen, als
Völkermord bezeichnet, ebenso entschied der Reichstag in Stockholm.

Im „Spiegel" heizte der türkische Ministerpräsident den Streit noch
einmal an: „Von einem Völkermord an den Armeniern kann keine Rede sein",
sagte er. Und drohte Zehntausenden illegal in der Türkei lebenden
Armeniern: „Bis heute haben wir die Frage der Ausweisung nicht in
Betracht gezogen, aber wenn die Diaspora weiterhin Druck macht, könnten
wir uns dazu imstande sehen."

Bei so viel Dissens dürften Merkel und Erdogan sich bemühen, zumindest
in der Öffentlichkeit deutsch-türkische Gemeinsamkeiten
herauszustreichen. Die Möglichkeit dazu bieten die Vorbereitung einer
türkisch-deutschen Universität in Istanbul, ein deutsch-türkisches
Kulturprogramm in Istanbul sowie ein gemeinsames Wirtschaftsforum. Ein
Handelsaustausch im Volumen von fast 25 Milliarden Euro sowie die
Präsenz von mehr als 4000 deutschen Unternehmen in der Türkei sprechen
für die Stärke der Wirtschaftsbeziehungen. Zumindest in diesem Punkt
werden sich Merkel und Erdogan einig sein.