Der Bundesvorsitzende der Türkischen Gemeinde in Deutschland, Kenan
Kolat, sorgt sich um das Wohlergehen der türkischstämmigen Schüler. Das
ist nicht neu, das ist seine Aufgabe; die Wahrnehmung der Belange und
Interessen der Deutschlandtürken gegenüber staatlichen Institutionen
und der Öffentlichkeit gehört zu den erklärten Zielen seiner im Jahr
1995 gegründeten Organisation. Mal bemüht sich Kolat darum, die
Sprachförderung an den Schulen zu verbessern, mal darum, die Zahl der
türkischstämmigen Schüler mit Schulabschluss und den Anteil der
türkischstämmigen Elternvertreter zu erhöhen. Das alles ist gut und oft
auch richtig. Nun aber hat Kolat sich in einer schulpolitischen Frage
zu Wort gemeldet, in der es ihm wohl weniger um das Wohlergehen der
türkischstämmigen Schüler, als vielmehr um die Interessenwahrung des
türkischen Staates geht - auch wenn Kolat dies natürlich nicht so
etikettiert.
Im brandenburgischen Lehrplan werden die Massaker
an den Armeniern im Osmanischen Reich in den Jahren 1915 bis 1918 als
"Genozid" bezeichnet. Dies, so Kolat in dieser Woche in der türkischen
Zeitung "Hürriyet", setze die türkischstämmigen Schüler unter einen
"psychologischen Druck", der sie in ihren schulischen Leistungen
beeinflusse, und es "gefährde den inneren Frieden". Er werde sich
deshalb mit dem Brandenburger Ministerpräsidenten treffen und diesen
darum bitten, die Vorwürfe aus dem Lehrplan zu streichen, kündigte
Kolat an. Auch die geplante Gedenkstätte für den Potsdamer Pfarrer
Lepsius, der den Genozid dokumentierte, will Kolat verhindern - der
Brief an Angela Merkel sei schon unterwegs.
Im Ministerium in
Potsdam wird man bei diesen Ankündigungen die Augen verdreht haben. Man
sei sich bewusst, dass es andere Auffassungen über die Ereignisse von
damals gebe, sehe aber keinen Handlungsbedarf. Es werde keine
Änderungen in den Unterrichtsmaterialien mehr geben, hieß es dort.
Schon einmal hat sich an dem Lehrplan - der brandenburgische ist der
einzige in Deutschland, der den Genozid an den Armeniern erwähnt, und
wurde deshalb schon von vielen als Meilenstein gefeiert - ein
politischer Streit entzündet. Im Januar 2005 ließ der damalige
brandenburgische Ministerpräsident Matthias Platzeck den Verweis auf
den Völkermord an den Armeniern aus dem Lehrplan streichen, weil
türkische Diplomaten dagegen vehement protestiert hatten. Aufgeschreckt
durch die Debatte, die dann ins Rollen kam, korrigierte die
Schulbehörde einige Monate später den fatalen Fehler wieder, indem sie
den brandenburgischen Geschichtslehrern eine umfangreiche Handreichung
zum Thema "Völkermorde und staatliche Gewaltverbrechen im zwanzigsten
Jahrhundert" zur Verfügung stellte. Das Unterrichtsmaterial, erstellt
vom Landesinstitut für Schule und Medien Brandenburg und dem Institut
für Diaspora- und Genozidforschung an der Ruhr-Universität Bochum,
behandelt neben dem Völkermord an den ruandischen Tutsi und an den
Herero auch auf achtzehn Seiten das Ereignis und die politischen
Hintergründe, die zur Auslöschung vieler Armenier im Osmanischen Reich
führten: Unter jungtürkischer Verantwortung wurden fast anderthalb
Millionen Armenier umgebracht.
Es sei die Aufgabe der
Historiker, solche geschichtlichen Ereignisse zu untersuchen und zu
bewerten, dies aber sei bisher unzureichend und einseitig behandelt
worden, meint Kolat in der "Hürriyet". Er wiederholt damit, was auch
Vertreter der türkischen Regierung zur Armenier-Frage gerne sagen. Für
das Gros der Historiker ist dabei die Frage der Authentizität des
Genozids längst entschieden - die Leugner werden in ihrer
wissenschaftlichen Disziplin kaum noch ernst genommen. Und dennoch hat
Kolat Angst, dass die türkischstämmigen Schüler, konfrontiert mit
historischen Wahrheiten, vor Schreck vergessen, ihre Hausaufgaben zu
machen? Oder dass es in Brandenburg deshalb zu ausländerfeindlichen
Übergriffen kommen könnte? Diese Vorstellung ist nicht
nachzuvollziehen. In Deutschland leben fast drei Millionen Türken, zu
deren Sprachrohr sich die Türkische Gemeinde in Deutschland oft
erklärt, auch wenn sie nicht aller Interessen vertritt. Denn es ist
längst nicht so, dass alle hier lebenden Türken einhellig der Meinung
sind, die Massaker an den Armeniern seien kein Völkermord gewesen.
Besonders die Vertreter türkischer Minderheitenorganisationen in
Deutschland setzen sich seit Jahren bei der Bundesregierung für die
Anerkennung der Massaker als Genozid ein und fordern Gleiches von der
Regierung in der Türkei.
Kolats Intervention ist, so gesehen,
auch der diskriminierende Versuch, türkische Schüler zu entmündigen.
Das mag den Verhältnissen in der Türkei entsprechen - am 14. April 2003
hat das türkische Erziehungsministerium alle Schuldirektoren
verpflichtet, die gesamte Schülerschaft auf striktes Verneinen
irgendeines Armenier-Völkermords durch die Türkei einzuschwören. Der
deutschen Schulmaxime, Jugendliche zu frei denkenden Bürgern zu
erziehen, entspricht es jedoch nicht.