Argwohn und Spekulationen über den Inhalt der «Roadmap»

Die Grundsatzeinigung mit der Türkei über die Annäherung ist in Armenien auf Vorbehalte und Argwohn gestossen. Die nationalistische Daschnak-Partei verliess aus Protest die Regierungskoalition. Springende Punkte sind der Karabach-Konflikt und die Genozid-Frage.

Das Datum der Veröffentlichung war symbolisch gewählt, aber gerade
deshalb von einiger Brisanz. Als die Aussenministerien Armeniens, der
Türkei und der Schweiz in der Nacht auf den 23. April eine Erklärung
über eine Grundsatzeinigung in der diplomatischen Annäherung
veröffentlichten, weckte in Armenien der Zeitpunkt - einen Tag vor dem
Gedenktag für die Massenmorde an den Armeniern im Osmanischen Reich,
die 1915 begannen und von Armenien als Genozid gewertet werden -
grössten Argwohn. Viele empfanden es als Ungeheuerlichkeit, dass just
am Vortag dieses schmerzhaften Gedenkens die Beziehungen zur Türkei auf
dem Weg zur Normalisierung sein sollten, während diese sich doch nach
wie vor standhaft gegen eine Anerkennung der damaligen Verbrechen als
Völkermord wehrt.

Kalkulierter Koalitionsaustritt

Der Schluss, dies deute auf
ein Einknicken der armenischen Regierung gegenüber den Positionen der
Türkei hin, fiel auch deshalb leicht, weil bis heute der Inhalt der
ausgehandelten «Roadmap» für die Annäherung und Grenzöffnung geheim
gehalten wird. Eine der vier seit bald zwei Jahren regierenden
Koalitionsparteien, die Armenische Revolutionäre Föderation
Daschnakzutjun, trat am Montag nach der Veröffentlichung der
Grundsatzeinigung aus Protest aus der Regierung aus. Die drei
Ministerien und die verschiedenen höheren Posten in der Legislative,
die Daschnak-Anhänger bisher besetzt hatten, gab sie zurück. Die
Bewegung ist die älteste politische Formation Armeniens mit reicher
Geschichte, die in die Endzeit des Osmanischen Reiches zurückgeht. Sie
vertritt auch die gerade in der Genozid-Frage noch radikalere
armenische Diaspora.

Anfang der neunziger Jahre, nach
Armeniens Erlangung der Unabhängigkeit, war sie während der
Präsidentschaft des heutigen Oppositionsführers Lewon Ter-Petrosjan nur
im Untergrund aktiv gewesen. Aus ihrem nationalistischen Gedankengut
heraus lässt sich ihre Ablehnung jedweder Einigung mit der Türkei ohne
Anerkennung des Genozids nachvollziehen. Der Schritt ist dennoch eher
populistisch denn prinzipiell, weil die Regierung stets eine
Verknüpfung der Völkermord-Frage und der Öffnung der Grenze mit der
Türkei auseinandergehalten hatte. Beobachter sehen den
Koalitionsaustritt eher als Manöver im Hinblick auf kommende Wahlen.

Misstrauen gegenüber der Regierung

Der Stimmung in der Bevölkerung scheint dies aber zu entsprechen. Der
armenische Konfliktforscher Artak Ayunts, der politisch der Opposition
nahesteht, stellt ein Glaubwürdigkeitsproblem der Regierung fest: Die
Öffentlichkeit sei sogar eher noch bereit, türkischer Propaganda - wie
er es nennt - Glauben zu schenken, als den Beteuerungen der Regierung,
die «Roadmap» enthalte keine Bedingungen. Der Verdacht, die «Roadmap»
sei eben doch mit einer Lösung des Konflikts mit Aserbeidschan um
Nagorni-Karabach verknüpft, während aber die Genozid-Frage ganz im
türkischen Sinne vom Tisch sei, nährt sich auch daraus, dass die Türkei
von derartigen Vorbedingungen gesprochen hat. Für ihr Verhältnis zu
Aserbeidschan ist das entscheidend. Baku fühlt sich von der
Vereinbarung düpiert, weil es befürchtet, einen wichtigen Trumpf - die
geschlossene Grenze zwischen Armenien und der Türkei - bei einer
Einigung der beiden Nachbarn zu verlieren. Immerhin hatte die Türkei
1993 im Zuge des blutigen Krieges zwischen Armenien und Aserbeidschan
die Grenzschliessung verfügt.

Im Unterschied etwa zum
armenisch-amerikanischen Politologen und Direktor des Armenian Center
for National and International Studies in Erewan, Richard Giragosian,
der die «Roadmap» als strategischen Fehler der Regierung bezeichnet und
für eine tragische, möglicherweise irreversible Fehlentwicklung hält,
geht Ayunts in seiner Einschätzung weniger weit. Für problematisch hält
er weniger eine mögliche Verknüpfung mit dem Karabach-Konflikt als vor
allem die Tatsache, dass der gegenwärtige Verhandlungsprozess so
intransparent sei. Dadurch sei unklar, ob und welche Konzessionen an
türkische oder aserbeidschanische Interessen gemacht würden.

Chance für Ausbruch aus der Isolation

Grundsätzlich zweifelt Ayunts daran, dass die beiden Fragen derzeit
auseinandergehalten werden, wie es die offizielle armenische
Sprachregelung besagt. Dagegen spricht nach seinen Beobachtungen die
rege diplomatische Aktivität, die derzeit in der Karabach-Problematik
festzustellen ist. In der Tat ist die sogenannte Minsk-Gruppe, eine mit
der Lösung des Konflikts betraute und von den Vereinigten Staaten,
Russland und Frankreich angeführte Ländergruppe der Organisation für
Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, in den vergangenen Monaten
sehr aktiv gewesen. Zudem hat Russland seit Herbst 2008 seine eigenen
Vermittlungsbemühungen intensiviert. Seine Rolle ist insofern begrenzt,
als es auf armenischer Seite am Krieg teilgenommen hatte und
militärisch und wirtschaftlich sehr stark in Armenien engagiert ist.

Angesichts der grossen Abhängigkeit Armeniens von Russland müsste es
eigentlich im Interesse des kleinen Binnenlandes sein, möglichst rasch
Zugang zum türkischen Markt und zu den Verkehrsverbindungen in die
Türkei zu bekommen. In Erewan geht seit längerem das Bonmot um, die
Russen könnten binnen fünf Minuten das ganze Land lahmlegen - die
Energieversorgung und die Eisenbahn sind in den Händen von
Tochterfirmen russischer staatlich kontrollierter Konzerne. Die
Regierung hofft auf einen russischen Kredit von 500 Millionen Dollar
zur Bewältigung der Finanzkrise. Wegen des Konflikts mit Aserbeidschan
und der Türkei stehen dem Land derzeit nur die Grenzen nach Georgien
und Iran offen. Das ist ohne Zweifel der Entwicklung des Landes nicht
förderlich. Auch geopolitisch wäre eine zumindest
pragmatisch-oberflächliche Versöhnung mit der Türkei von grosser
Bedeutung. Sie würde das bereits jetzt wachsende türkische Interesse am
Südkaukasus verstärken. Vielleicht reagierte Moskau auch deshalb nach
der Veröffentlichung der türkisch-armenischen «Roadmap» zunächst betont
zurückhaltend.