Reise in die Finsternis

Ein Film über den ermordeten Journalisten Hrant Dink rührt an die Lebenslügen eines fanatischen Türkentums

Armenier und Türken: Zwei Fälle für die Klinik, konstatiert in dem Film
der Mann auf dem Podium. "Die Armenier leiden unter ihrem Trauma. Die
Türken unter Paranoia. Beide Seiten brauchen eine Therapie". Und wer
gibt den Therapeuten? Er versuchte sich an dieser gewaltigen Aufgabe,
der Mann, von dem diese Worte stammen: Hrant Dink. Nicht nur ein
Armenier, dieser Hrant Dink, sagt der große alte Romancier Yasar Kemal,
nicht nur einer aus der Türkei. Nein - ein Mensch. Einer, der sich
eigentlich Unmögliches vorgenommen hatte: zwischen zwei Völkern zu
vermitteln, zwischen denen seit fast 100 Jahren ein großer schwarzer
Graben klafft. Die Vernichtung und Vertreibung des armenischen Volkes
aus seiner jahrtausendealten Heimat, aus Anatolien. Für die einen das
Ende. Für die anderen zu nahe an ihrem eigenen Anfang, der Gründung der
Republik 1923, als dass sie die Wahrheit ertrügen.

Hrant Dink, der Junge aus dem Waisenhaus, der Journalist und Verleger
hatte Unmögliches geleistet. Zumindest unter den Köpfen der Istanbuler
Liberalen, die sich schon aus dem Schraubstock der türkischen
Lebenslügen befreit hatten. Die Fronten begannen zu bröckeln, alte
Parolen hohl zu klingen. Hrant Dink war charmant, einnehmend,
überzeugend. Wahrscheinlich zu überzeugend. Hrant Dink ist tot.
Erschossen im Januar 2007 vor dem Büro der zweisprachigen Wochenzeitung
Agos, die er gegründet hatte.

Mordakte Hrant Dink ist ein starker Film. Im Persönlichen wie im
Politischen. Eine Studie des Menschen Hrant Dink. Und eine Reise ins
Herz der Türkei. Dahin, wo dieses Herz noch immer kalt und krank ist.
Und dahin, wo mancher Heilung und Hoffnung sehen mag.

Die WDR/Arte-Koproduktion von Osman Okkan und Simone Sitte ist auch die
Chronik eines angekündigten Todes. Ein 17-Jähriger hat von hinten drei
Kugeln in Hrant Dinks Kopf und Nacken gejagt, aber, das zeigt der Film,
der Staat war nicht unbeteiligt. Da gibt es den Brief der Polizei von
Trabzon an die Kollegen in Istanbul, der die Tat bis ins Detail
vorhersagt. Und keiner reagiert. Da sind die Gendarmen, die schon vor
Verhaftung des Täters die Seriennummer der Waffe kennen.

Dieser Mord führt in die Untiefen des türkischen Staates, dorthin, wo
selbstgerechte, mörderische Fanatiker sitzen, die sich für ausersehen
halten, auch außerhalb des Gesetzes das Vaterland zu retten. Und die
sich im Einklang mit einer Ideologie wissen, die in der Türkei noch
immer Schulkindern eingebläut wird. Einer Ideologie, die den Staat über
die Menschen stellt, das Anderssein und die Vielfalt fürchtet und die
"Verunglimpfung des Türkentums" bestraft sehen will. "Solange wir die
Finsternis nicht ändern, die aus Babies Mörder macht, solange werden
wir diese Gesellschaft nicht ändern", klagte Hrant Dinks Witwe Rakel
auf der Trauerfeier für ihren Mann.

Der Mord, die Niedertracht, die klammheimliche Genugtuung in
nationalistischen Kreisen, die mächtigen Hintermänner - woher also
kommt die Hoffnung, die durchscheint in dem Film? Da sind
Hunderttausende, Türken, die nach dem Mord Istanbuls Straßen
überschwemmten. "Wir sind alle Armenier, wir sind alle Hrant", hieß es
auf ihren Schildern. Da sind die prominenten türkischen
Intellektuellen, die sich mit einer Unterschriftenkampagne für die
Massaker von 1915/16 entschuldigen. Undenkbar all das, noch vor kurzem.
Da sind die aktuellen Bemühungen Ankaras um diplomatische Beziehungen
mit den armenischen Nachbarn. Und da ist vor allem der seit ein paar
Monaten laufende historische Prozess gegen Ergenekon - jene
ultranationalistische Mordbande, deren Köpfe und Glieder in der Armee,
in der Polizei, in der Justiz, in den Medien, in den Universitäten
sitzen und die auch hinter dem Mord an Hrant Dink vermutet wird.

Es ist ein erster Versuch, das Krebsgeschwür herauszuschneiden. Der
Ausgang ist offen. Hrant Dinks Anwälte klagen, der Prozess gegen seine
Mörder diene auch der Vertuschung. In den Schulen werden noch immer
Staat und Militär verherrlicht und Keime des Hasses gegen alle gesät,
die anders sind. Die Mehrheit zieht noch immer das Vergessen der
Erinnerung vor. Es ist noch ein langer Kampf. Hrant Dink fehlt.