Die einbandagierte Seele

Wenn die Religion dem laizistischen Staat folgt: Über die moralische Inkompetenz der türkischen Gesellschaft

von Zafer Senocak

Ein Türke vergibt gern, bittet aber
ungern um Vergebung. In seinem Herzen ist jeder Türke ein Ritter. Auf
der Rüstung immer eine Lackschicht der moralischen Integrität. So
poliert er seine Kriegerseele auf.

Im Laufe der Geschichte habe man viele Völker unterworfen. Von
Zentralasien kommend, habe man sich im Westen bis nach Wien
ausgebreitet. In türkischen Geschichtsbüchern finden sich diese
Eroberungszüge als eine endlose Aneinanderreihung der Triumphe. Eine
Heldengeschichte, bei der sich die Eroberer immer ritterlich verhalten.
Von den Leiden der Unterworfenen hört man nichts. Fast immer scheinen
sie sich bereitwillig in ihr Schicksal zu fügen. Wer sich auflehnt,
kann nur ein Lump und Verbrecher sein.

Selbst dann, als das Osmanische Reich nach zahllosen Niederlagen und
Rückzügen am Ende des Ersten Weltkrieges zerbrach und das anatolische
Kernland bis auf wenige Landstriche von den Siegermächten besetzt
wurde, habe sich das türkische Volk zu einem Befreiungskrieg
aufgerafft, den Feind aus Anatolien vertrieben. Wieder eine
Heldengeschichte mit einem triumphalen Finale.

So
oder so ähnlich wird Geschichte den türkischen Kindern seit
Generationen beigebracht. Sie können stolz sein, ein Türke zu sein.
Makel oder gar schwarze Flecken tauchen auf dem immer blütenweiß
scheinenden Hemd des türkischen Nationalstolzes nicht auf.

Dass nun zahlreiche türkische Intellektuelle mit einer knapp
formulierten Entschuldigung bei den Armeniern an die Öffentlichkeit
getreten sind, in dem sie um Verzeihung bitten, wie in der Türkei mit
der großen Katastrophe des armenischen Volkes in Anatolien, gemeint ist
der Völkermord an den Armeniern im Jahre 1915, umgegangen wird, nämlich
ohne jegliche Sensibilität und Mitgefühl, ohne jede Empathie, die auch
mal die Lage der anderen Seite näher bringen könnte, so ein Auftritt
stößt in der Breite des türkischen Volkes auf Unverständnis. Mit
erbittertem Schweigen und mit Anfeindungen, die die Unterzeichner der
Abbitte des Landesverrats bezichtigen, so reagiert die große Mehrheit
der türkischen Öffentlichkeit auf einen Appell für einen grundsätzlich
anderen, menschlicheren Umgang mit einem der dunkelsten Kapitel der
türkischen Geschichte.

Die Verknotung der türkischen Seele hat sicher viele Ursachen. Es
kann auch von einem vererbten Trauma des Untergangs gesprochen werden,
das in der Endphase des Osmanischen Reiches wurzelt, in einem auch für
die Türken sehr blutigen und schmerzhaften Zusammenbruch. Doch um die
eigenen Leiden mit den Leiden des armenischen Volkes aufzurechnen,
bedarf es enormer moralischer Kälte. Diese Kälte ist zum einen das
Ergebnis der türkischen Identitätsformierung durch den ideologisch
festgelegten Staat, der absolute Autorität über die
Geschichtsschreibung beansprucht. Aber diese Formierung findet nicht
nur in den Schulen, sondern zum Teil auch in den Familien und in der
Nachbarschaft statt.

Wer sich dieser nationalistischen Formierung nicht unterwirft wird
zum Außenseiter. So richtet sich die Gesellschaft in ihren Lügen ein
und vererbt sie an die nächsten Generationen.

Aber es gibt auch eine andere, weniger beachtete Komponente. Die
moderne türkische Gesellschaft formierte sich nach dem Ersten Weltkrieg
als eine radikal laizistische Gesellschaft. Religion spielte im
öffentlichen Diskurs keine Rolle mehr. Die Vorgänger dieser
kulturrevolutionären Entwicklung waren die Jungtürken, also genau
diejenige politische Kraft, die für den Völkermord an den Armeniern
Verantwortung trägt. Auch für sie spielten die moralischen Maximen der
Religion keine Rolle mehr. Wie bewerten aber die Prinzipien der
islamischen Religion den Deportationsbefehl Talat Paschas? Armenische
Frauen, Kinder, alte Menschen, unbewaffnete Männer mit Zwang auf einen
Weg zu schicken, der ihnen den sicheren Tod bringen wird?

Eine Konfrontation des Völkermordes mit den moralischen Richtlinien
der Religion hat bis heute nicht stattgefunden. Das zeigt zum einen,
wie sehr die muslimische Religion in der Neuzeit ihren moralischen Kern
eingebüßt hat, zum anderen aber auch wie schwer sich eine Gesellschaft
im Modernisierungsprozess tut, wenn sie sich lediglich einer scheinbar
rationalen, mechanisch positivistischen Weltanschauung verschreibt.

Dass auch heute fast ein Jahrhundert nach der Katastrophe in
Anatolien die meisten Imame und Muftis der Türkei, also Würdenträger
der islamischen Religion, in der Auslöschung eines christlichen Volkes
auf anatolischem Boden mehr eine Erleichterung sehen, als eine Schuld,
für die es auch im Islam wie in manch anderer Religion den Begriff der
Sünde gibt, deutet auf einen moralischen Verfall. Wäre nicht zu
erwarten, dass die oberste Religionsbehörde der Türkei, als geistliche
Instanz sich an den Appell der Intellektuellen anschließt?

Nein, genau dies ist eben nicht zu erwarten. Und dieser Zustand
beschreibt auch, warum sowohl die muslimische Religion als auch der
säkulare türkische Staat in der Krise sind. Staat und Religion
instrumentalisieren sich in der Türkei gegenseitig. Der Nationalismus
macht aus jedem Nichtmuslim einen Wackelkandidaten für das Türkentum.
Die Religion nimmt diese Definition türkischer Identität wohlwollend
auf und verleugnet somit ihre eigenen moralischen Prinzipien.

So verkommt der islamische Ritus zu einer Technik ohne Seele. Es
bildet sich eine an den tradierten Formen und Förmlichkeiten entlang
aufgebaute Religion, ohne jegliche moralische Kompetenz. Jeder
praktizierende Muslim reinigt durch die rituelle Waschung seinen
Körper, gegebenenfalls mehrmals am Tag. Wie aber reinigt er seine
Seele, sein Gewissen? Ist das Gewissen überhaupt noch eine Kategorie im
muslimischen Glauben? Es scheint so, als wäre es einbandagiert,
selbstgefällig und nicht mehr erreichbar für die Reinigungskräfte einer
religiösen Unterweisung.

So bleiben eben nur ein paar liberale Intellektuelle übrig, die
nicht mehr in der Lüge leben wollen. Allein gelassen in einer
Gesellschaft, die die Kultur des Vergebens hoch hält - in diesem Fall
sind ja die anderen fehlgegangen und nicht man selbst - aber die
moralische Pflicht, für die eigenen Sünden um Vergebung zu bitten,
verlernt hat.

Der Autor, geboren 1961 in Ankara, kam 1970 nach München und lebt seit 1990 als freier Schriftsteller in Berlin.