Erdogan begeht eklatante Dummheit

Hätte der türkische Regierungschef doch den Mund gehalten...

von JÜRGEN
GOTTSCHLICH

Zuerst
einmal die gute Nachricht. Nach jahrelangen Debatten um das Schicksal der
Armenier im ausgehenden Osmanischen Reich hat jetzt eine zivilgesellschaftliche
Initiative das Heft des Handelns in die Hand genommen. Von staatlicher Seite
wurde jahrzehntelang jegliches Schuldeingeständnis oder auch nur ein Bedauern
über hunderttausende tote Armenier abgewehrt. Vor diesem Hintergrund stellt die
Internetkampagne "Ich bitte um Entschuldigung" einen kaum zu überschätzenden
Durchbruch dar - nicht nur, was das Tabu um den Genozid an den Armeniern angeht,
sondern für die demokratische Kultur des Landes insgesamt.

Allen
bisherigen Einschüchterungsversuchen durch Staat, Justiz und
militant-faschistischen Untergrundstrukturen zum Trotz, haben in den letzten
Tagen fast 15.000 Bürger der Türkei ihren armenischen Mitmenschen ihr
persönliches Bedauern für die Tragödie von 1915 ausgedrückt: nicht anonym,
sondern mit vollem Namen und für jeden identifizierbar. Damit ist die
Diskussion, ob es einen Völkermord gegeben hat oder nicht, nicht mehr zu stoppen
- auch, wenn die nationalistische Rechte jetzt wieder "Verrat" und "Ausverkauf"
schreit. Das war zu erwarten und hört sich mehr denn je wie ein Rückzug auf
Raten an.

Was nicht
unbedingt zu erwarten war, das ist die harsche und ungemein platte Reaktion von
Regierungschef Tayyip Erdogan. Hätte er doch bloß den Mund gehalten oder wie
Staatspräsident Abdullah Gül darauf verwiesen, dass die türkische Gesellschaft
sich eben mittlerweile jede offene Debatte leisten kann! Dann hätte die
Unterschriftenaktion auch eine positive Wirkung im Verhältnis zum armenischen
Nachbarstaat entfalten können.

Erdogan
aber bekräftigte noch einmal ohne Not eine Position, die eine Verständigung mit
Jeriwan nur erschweren kann. Es habe keine Verbrechen gegeben, folglich gebe es
auch nichts zu entschuldigen, polterte er. Das wirkt fast wie eine bewusste
Sabotage an der Politik einer vorsichtigen Aussöhnung, die Präsident Gül mit
seiner Reise nach Armenien vor zwei Monaten begonnen hat. Das ist eine eklatante
Dummheit.