Aussöhnung mit Armeniern rückt näher

Ein neuer Präsident in Amerika, der Georgienkrieg - zwei Großereignisse haben Bewegung ins kriselnde türkisch-armenische Verhältnis gebracht. In der Türkei entschuldigten sich binnen weniger Stunden Tausende Menschen für den Völkermord an den Armeniern - bisher ein Tabu.

Istanbul - Es war eine mit Spannung erwartete Aktion. Als
die Initiatoren einer Kampagne, die zur Entschuldigung für die Leugnung des
Genozids an den osmanischen Armeniern einlädt, ihren Aufruf am Montagmorgen ins
Netz stellten, hätte alles mögliche passieren können. Die Staatsanwaltschaft
hätte einschreiten können, die Web-Site hätte sabotiert werden können, oder,
schlimmer noch, es wären keine Reaktionen gekommen.

Stattdessen
wurde die Seite zu einem Fanal. Innerhalb weniger Stunden hatten sich bereits
mehr als 2000 Leute den rund 200 Erstunterzeichnern angeschlossen und einen
Text unterschrieben, der bei den Armeniern in aller Welt um Entschuldigung
dafür bittet, dass die türkische Regierung bis heute "die große
Katastrophe" die den osmanischen Armeniern 1915 geschah, immer noch
leugnet und so unsensibel mit dem Leid unserer armenischen Brüder umgeht.
"Dafür entschuldige ich mich". Bis heute Mittag sind es bereits 5000
Unterzeichner.

Die große
Teilnahme an der Unterschriftenaktion, der sich unter anderen auch der
Grünen-Vorsitzende Cem Özdemir als einer der ersten angeschlossen hat, zeigt,
dass die Initiatoren der Kampagne ein gesellschaftliches Bedürfnis getroffen
haben. Die meisten türkischen Intellektuellen sind mittlerweile zutiefst
beschämt darüber, dass die offizielle Geschichtsschreibung die Massaker an der
armenischen Bevölkerung während des Ersten Weltkrieges immer noch als Kollateralschaden
des Krieges abtut oder gar behauptet, die damalige muslimische Bevölkerung
hätte sich nur gegen Angriffe armenischer Banden gewehrt.

Professor
Baskin Oran, einer der vier Initiatoren sagte, er hoffe, dass die Kampagne auch
dazu führen wird, dass mehr Leute genauer nachfragen werden, was damals
passiert ist. Denn viele Türken wissen es wirklich nicht, sondern kennen nur
die offizielle Propaganda. Um der zu erwartenden Kritik aus dem
nationalistischen Lager etwas den Wind aus den Segeln zu nehmen, sagte
Professor Ahmet Insel, ebenfalls ein Verantwortlicher der Kampagne, jeder
türkische Bürger habe schließlich das Recht, seine Meinung über die Geschichte
kundzutun. Die Unterschrift sei eine individuelle Entscheidung. "Wer sich
entschuldigen will tut es, wer nicht eben nicht."

Nationalisten
verweigern Entschuldigung

Doch
natürlich ließen sich die Nationalisten davon nicht beschwichtigen. Noch bevor
die Kampagne überhaupt gestartet wurde, gab Devlet Bahceli, Chef der
rechtsradikalen Parlamentspartei MHP bereits den Ton vor: "Wir Türken
brauchen uns für gar nichts zu entschuldigen, im Gegenteil. Die Armenier haben
damals ihre türkischen Mitbürger massakriert und später etliche türkische
Diplomaten ermordet."

Auf diese
Aktionen der armenischen Rachebrigade Asala, die in den siebziger und achtziger
Jahren durch Angriffe auf türkische Diplomaten bekannt wurde, nimmt auch eine
Gegenerklärung Bezug, die gestern von Angehörigen ermordeter Diplomaten und
Ex-Botschaftern ebenfalls ins Netz gestellt wurde. Darin bezeichnen rund 60
Ex-Botschafter die Entschuldigungsaktion als "Verrat" und fordern
ihrerseits eine Entschuldigung Armeniens für die Asala-Morde.

Doch diese
Reaktionen können nicht darüber hinwegtäuschen, dass im türkisch-armenischen
Verhältnis grundlegende, positive Veränderungen bevorstehen. Die
Entschuldigungskampagne ist der bisherige Höhepunkt einer Entwicklung, die vor
Jahren damit begann, dass Bücher erschienen, die die offizielle Position in
Frage stellten und die zu einem innertürkischer Historikerstreit führten, der
in einer öffentliche Großveranstaltung mündete, während der erstmals die
Dissidenten ihre Position vortrugen.

Seitdem wird
in vielen Medien das Tabu, nicht über einen Genozid zu reden, nach und nach
aufgeweicht, was letztlich weder durch die berüchtigten Prozesse wegen
"Beleidigung des Türkentums" noch durch den Mord an dem armenischen
Journalisten Hrant Dink im Januar 2007 aufgehalten werden konnte.

Georgien-Krieg
führt zu Dialog mit Armeniern

Vor allem
seit dem Krieg in Georgien ist eine ganz neue Situation entstanden. Tief
besorgt über die möglichen Auswirkungen des Krieges auf die gesamte Region,
startete die türkische Regierung noch vor dem offiziellen Waffenstillstand eine
Kaukasus-Initiative, mit dem Ziel, durch einen vertieften Dialog den Kaukasus
langfristig zu stabilisieren. Russland, Georgien, Armenien, Aserbaidschan und
die Türkei sollen sich dafür an einen Tisch setzen und neue
Kooperationsmechanismen beschließen.

Vordringlichstes
Anliegen der Initiative ist es, den neben Südossetien und Abchasien ebenfalls
gefährlich schwelenden Konflikt um die zwischen Armenien und Aserbaidschan
umstrittene Region Berg Karabach endlich diplomatisch zu lösen, bevor es dort
ebenfalls zu einem neuen Krieg kommt. Will die Türkei aber dazu positiv
beitragen, muss sie selbst ihre Beziehungen zu Armenien erst einmal
normalisieren.

Wohl noch
nie seitdem die Republik Armenien 1991 aus den Trümmern der Sowjetunion
entstand, sind sowohl die türkische wie auch die armenische Regierung beide so
sehr an einer Normalisierung interessiert, wie zur Zeit. Die Türkei weiß, dass
sie ihre angestrebte Rolle als moderierende Regionalmacht im Kaukasus und im
Nahen Osten nur ausfüllen kann, wenn sie selbst mit allen Nachbarn im Reinen
ist. Außerdem ist Ankara klar, dass die Türkei sich mit ihrer hartnäckigen
Leugnung des Genozids international immer mehr isoliert.

Obama übt
Druck auf die Türkei aus

Der kommende
US-Präsident Barack Obama hatte bereits im Wahlkampf angekündigt, er werde eine
Resolution zum Völkermord im Senat unterstützen, was einer Katastrophe für die
bisherige türkische Außenpolitik gleichkäme. Das ist ein weiterer Grund, warum
die türkische Regierung auf Armenien zugeht. Für Armenien wird es auf der
anderen Seite ebenfalls unhaltbar, als letzter Alliierter Russlands im Kaukasus
von der Außenwelt völlig abgeschnitten zu sein.

Die Grenzen
zur Türkei und Aserbaidschan sind dicht, die Beziehungen zu Georgien angespannt
die Straßen nach Iran durch hohe Gebirge kaum zu gebrauchen. Armenien braucht
dringend eine offene Grenze zur Türkei und ist deshalb bereit, auf die
Anerkennung des Völkermords als Vorbedingung für die Normalisierung der Beziehungen
zu verzichten und gleichzeitig einen Kompromiss mit Aserbaidschan über die von
Armenien besetzten Gebiete im und um Berg Karabach anzustreben.

Als
deutliches Entspannungssignal war der türkische Präsident Abdullah Gül vor zwei
Monaten nach Jerewan gereist, als dort die türkische Fußball Nationalmannschaft
zur Weltmeisterschaftsqualifikation gegen Armenien antreten musste. Diesem
Schritt wird ein Gegenbesuch des armenischen Präsidenten Sergej Sarkisian im
Frühjahr folgen, wenn Armenien zum Rückspiel in die Türkei kommt. Eine Öffnung
der Grenze zwischen beiden Ländern dürfte dann unmittelbar bevorstehen. Schon
jetzt arbeiten rund 60.000 Armenier in der Türkei, die von Ankara
stillschweigend geduldet werden.