Über den Gang hört man eine
gutgelaunte Männerstimme. Charles Aznavour, 84, singt vor sich hin, als er den
Konferenzraum seines Pariser Musikverlags in der Rue Ampère betritt, einer
kleinen Straße unweit des Triumphbogens.
An den Wänden hängen Tourneefotos und ein überlebensgroßes Plakat von Edith
Piaf. In der Ecke steht ein brauner Flügel, daneben ein Tonbandgerät aus den
Siebzigern. In diesem Raum erklangen Chanson-Welthits wie „Hier encore" oder
„La Bohème" zum ersten Mal.
Sie haben den Fans von Herbert Grönemeyer ein Weihnachtsgeschenk gemacht!
Auf Ihrer neuen CD singt er erstmals französisch . . .
Herbert hat mich überrascht. Erstens, weil er sehr gut französisch singt.
Zweitens macht er, wenn er ein Chanson singt, nicht so: (schmettert einen Ton).
Viele singen Varieté pompös und schwülstig. Das kann ich nicht ausstehen.
Herbert singt Varieté, wie sich das gehört.
Worauf kommt es bei einem Duett an?
Ein Duett zu singen ist, wie ein Theaterstück zu spielen. Jeder hat seinen
Part, ohne dem anderen seinen Raum zu nehmen. Wobei beide versuchen müssen,
eine Ebene herzustellen, auf der sie sich musikalisch begegnen. Ein Duett ist
wie eine Ehe.
Wie das?
Wenn schlechte Sänger zusammen singen, wird jeder versuchen, besser zu sein
als der andere. Lauter zu singen, als der andere. Gute Interpreten tun das
nicht. Ein guter Interpret wird sich immer auf die Tonlage des anderen
einlassen. Dabei entsteht eine Atmosphäre, die es jedem erlaubt, seine
Persönlichkeit einzubringen. Die meisten Sänger haben das Problem, dass sie
selbst ihr größter Fan sind. Danach erst kommen die anderen.
Das Album enthält auch ein Duett mit Edith Piaf . . .
Mit Edith habe ich acht Jahre lang gemeinsam auf der Bühne gestanden. Das
war Ende der Vierziger. Wir haben uns prächtig verstanden. Wir waren auf
Tournee und fuhren mit dem Auto von einem Auftrittsort zum nächsten. Eine Reise
von Brüssel nach Monte Carlo auf der Landstraße konnte dauern. Wir haben uns
die Zeit mit Singen vertrieben. Edith kannte alle Chansons der Welt. Ich
übrigens auch.
Edith Piaf hat Ihnen früh eine große Karriere vorausgesagt. Erinnern Sie
sich noch an den Moment, als Sie selbst realisiert haben, dass Sie eine Stimme
haben?
Ich war nie der Meinung, dass ich eine schöne Stimme besitze. Aber ich wusste
schon früh, dass ich singen kann. Singen bedeutet für mich mehr, als einfach
nur den Mund aufzureißen. Beim Singen geht es um Ausdruck, darum, zwischen den
Zeilen zu lesen. Nichts gegen Leute, die beim Singen nur den Mund aufreißen.
Aber sie geben einfach die Worte wieder, die sie vorher auswendig gelernt
haben. Und dann gibt es jene, die sich mit dem Text, den sie singen,
auseinandersetzen, die zwischen den Zeilen lesen und dem Chanson ihren eigenen
Ausdruck verleihen. Ich habe dieses Talent, und das hat mir auch erlaubt zu
schreiben. Man kann nicht schreiben, wenn man nichts kapiert. Obwohl, es gibt
auch Leute, die kapieren nichts und schreiben trotzdem.
Sie sind der erfolgreichste französische Sänger aller Zeiten. Man liebt
Sie sogar in den Vereinigten Staaten. Wie ist Ihnen das gelungen?
Amerikaner lieben in der Regel nur, was amerikanisch ist. Die amerikanischen
Plattenbosse wollten, dass meine Chansons ins Englische übersetzt werden. Man
hat mir erklärt, dass ich nur auf diese Weise in den Vereinigten Staaten Erfolg
haben könne. Meine Antwort war: Ich möchte nicht erfolgreich sein, ich möchte,
dass ich der Erfolg bin. Das ist nicht dasselbe. Mir war wichtig, dass die
Zuschauer meine Texte hören und nicht die Interpretation eines Übersetzers. Die
Plattenbosse haben meine Entscheidung dann zähneknirschend akzeptiert.
Das erklärt noch nicht, warum Sie auch in Amerika zu einem Star geworden
sind.
Ich bin kein Star. Ich bin ein Vertrauter des Publikums. Die Menschen kommen
nicht in meine Konzerte, weil ich ein Star bin, sondern weil sie die
Geschichten hören wollen, von denen ich in meinen Liedern erzähle. Es sind
Chansons mit einer sehr intimen persönlichen Stimmung. Solche Lieder haben die
Amerikaner bis heute nicht.
Sie haben viele Texte über Zeit und Vergänglichkeit geschrieben, schon in
jungen Jahren. Woher kam diese Melancholie? Ihre Kindheit war doch glücklich .
. .
Ja, sehr glücklich. Wir waren arm, aber nicht armselig. Diese Melancholie
hat sicher mit der Emigration meiner Eltern zu tun. Sie erwächst aus den
Schwierigkeiten, die ein Mensch hat, der in ein fremdes Land kommt, ohne Geld,
ohne Sprachkenntnisse. Meine Eltern waren gezwungen, ihren angelernten Beruf
abzulegen, um irgendeine andere Tätigkeit auszuüben, um uns Kinder
großzuziehen. Sie wollten uns eine Ausbildung geben. Deshalb fühle ich mich
auch heute den jungen Menschen der zweiten Generation der Einwanderer so
verbunden. Ihre Lage heute ist viel schwieriger als die meiner Eltern. Damals
brauchte man Arbeitskräfte. Heute haben wir eine hohe Arbeitslosigkeit. Man
braucht die Leute nicht mehr. Und trotzdem kommen sie weiter von überallher
nach Frankreich.
In der Region Ihres Herkunftslandes Armenien herrschen zurzeit viele
Konflikte . . .
. . . entschuldigen Sie, ich rede nicht über Politik. Ich begreife mich
nicht mehr als politischen Menschen. Ich sage bewusst „nicht mehr". Ich wurde
in eine politisch links eingestellte Familie hineingeboren. Als junger Mann war
ich Kommunist, wie das bei jungen Menschen eben so ist: Sie lehnen erst mal alles
ab. Heute denke ich, es hat keinen Sinn, immer nur über die Politiker zu
schimpfen. Ich brauche diese Damen und Herren ja auch, wenn ich nach Brüssel
fahre, um darüber zu diskutieren, was man für mein Land Armenien tun kann.
Ist das die Rolle, die ein Künstler ausfüllen sollte: die des
Gesellschaftskritikers?
Auch. Ich erzähle in meinen Chansons ja vorwiegend aus dem Leben der
Menschen. Sie erkennen sich in meinen Chansons wieder. Sie finden die traurigen
Momente ihres Lebens in meinen Chansons widergespiegelt. Jeder Autor, der es
schafft, seine Zuhörer zu berühren, tut dies, indem er sie mit einem Thema
konfrontiert, das sie im Inneren noch nicht bewältigt haben.
Woher nehmen Sie Ihre Energie?
Das ist die Energie eines Überlebenden. Ich bin Überlebender. Wenn meine
Mutter und mein Vater es nicht geschafft hätten zu fliehen, wäre ich nie
geboren worden. Auf die Bühne zu treten ist für mich heute noch wie ein
Boxkampf. Letztendlich kämpfen wir doch alle. Der Händler auf dieser Seite der
Straße kämpft gegen den Händler auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Das
Leben ist ein Kampf, trotzdem muss man es mit Heiterkeit angehen. Doch am Ende
kommt es bei einem Kampf darauf an, dass man ihn gewinnt und am besten
überlebt. Ich bin zwar ein Emigrantensohn, wollte aber nie leben wie ein
Emigrant. Ich wollte ein besseres Leben, ich wollte den sozialen Bedingungen
meiner Kindheit entkommen. Eine Lektion, die ich aus dieser Zeit mitgenommen
habe, ist, dass man das, was man tut, lieben muss.
Ist diese Liebe zum eigenen Metier Ihr Erfolgsrezept?
Alles im Leben hat mit Liebe zu tun. Wenn man das mal verstanden hat,
bedeutet alles im Leben auch Glück.
Spüren Sie einen Unterschied, wenn Sie heute auf eine Bühne treten im
Vergleich zu früher?
Ich habe früher besser getanzt (lacht). Meine Beine sind schwer geworden.
Aber das hält mich nicht davon ab, es trotzdem zu tun.
Welche Rolle hat Ihre Familie für Ihre Karriere gespielt?
Ohne meine Familie hätte ich keine Karriere machen können. Meine Eltern
waren auch Künstler, aber sie konnten ihren Beruf nicht mehr richtig ausüben,
weil sie die französische Sprache nicht beherrschten. Meine Mutter ist einmal
kurz im Fernsehen aufgetreten. Da suchte man eine armenische Frau. Sie hat dann
noch alle zwei Wochen für die armenische Gemeinschaft in Paris Theater
gespielt. Das hat sie glücklich gemacht. Mein Vater ist mit russischen und
armenischen Liedern aufgetreten. Er hat das nur gemacht, um uns Kinder ernähren
zu können.
Sie mussten einige Schicksalsschläge wegstecken, haben Ihren Sohn durch
Selbstmord verloren. Hat Ihnen die Musik in schweren Zeiten geholfen?
Darüber rede ich nicht. Und das hat einen Grund. Die Leute mögen es nicht,
wenn Prominente öffentlich ihre schmutzige Wäsche waschen. Dieses ganze
öffentliche Gejammer. Ich mag das nicht. Ich möchte meinem Publikum Hoffnung
geben. Ich bin ein Optimist.
Die meisten Ihrer Chansons klingen aber nicht sehr optimistisch.
Das stimmt. Meine Chansons sind alles andere als optimistisch.
Warum?
Ich weiß es nicht. Ich habe einfach keine optimistischen Chansons
geschrieben. Es ist paradox (lacht). Ich bin ein trauriger Sänger, aber ein
fröhlicher Mensch.
Schreiben Sie heute immer noch?
Ja. Jeden Tag. Und am nächsten Tag werf' ich es weg. Meine Arbeit macht mir
Spaß. Kreativität ist ein Muskel. Und dieser Muskel kann auch mal Schmerzen
verursachen. Alle meine Ehefrauen waren übrigens eifersüchtig auf diesen
Muskel. Weil ich oft den ganzen Tag am Schreibtisch saß und dadurch für sie
nicht ansprechbar war.
Haben Sie schon beim Schreiben ein Gefühl dafür, ob Ihnen ein Text
gelingt?
Beim Schreiben bin ich immer ganz sicher, dass alles phantastisch ist. Erst
auf den zweiten Blick fällt mir auf: Das hast du aber schon mal irgendwo
gelesen. Dann kommen die Zweifel . . . na ja, ob dieser Reim so toll ist? Und
natürlich kommt der Moment, wo man ein Chanson zum ersten Mal singt. Wo ich
mich frage, wird dieses Chanson das Publikum erreichen? Wenn ich glaube, dass
das nicht der Fall ist, werf' ich den Text weg. Aber nicht in den Papierkorb.
Nein, ich schreddere die misslungenen Texte. Ich möchte nicht, dass man auch
nur ein Wort davon wiederfindet. Deshalb schreddere ich das Papier auch nicht
in Streifen, sondern mache Konfetti daraus.
Sie werden nächstes Jahr 85. Haben Sie schon mal ans Aufhören gedacht?
Nein. Ich möchte zwar keine Filme mehr drehen, aber es gibt noch viele
Dinge, über die ich schreiben möchte. Und eines kann ich Ihnen sagen: An dem
Tag, an dem ich einen Sänger treffe, der meine Chansons besser singt als ich,
werde ich sofort aufhören zu singen.
Interview Jan Seemann