Sascha Lehnartz hat ihn dort getroffen. Und erteilt gern ein Unbedenklichkeitsattest.
Charles Aznavour: Ich soll tatsächlich einen Test einreichen, der
nachweist, dass ich kein Kokain nehme. Dabei haben die jede Menge
Künstler, die sich mit Drogen zugrunde gerichtet haben. Ich habe mich
noch nie in meinem Leben berauscht. Na ja, das stimmt nicht ganz. Mit
Bordeaux schon. Das ist aber nicht dasselbe. Das ist eher ein
nationaler Charakterzug.
besser merken, aber bei der Plattenaufnahme liest man ja eh. Deutsch zu
singen ist allerdings eigenartig. Ich habe gelernt, Deutsch zu lesen -
aber ohne es zu verstehen. Aber Sie haben mit der deutschen Version von "Tu
t'laisses aller", "Du lässt Dich geh'n", 1961 einen großen Hit in
Deutschland gehabt. Dabei wollte die Plattenfirma diese Platte gar
nicht veröffentlichen. Die haben mir gesagt: "Das können wir nicht
machen. Wir haben in Deutschland ziemlich viele dicke Frauen." Aber
dann wurde es ein Hit. Jetzt haben Sie eine Doppel-CD mit Duetten
herausgebracht: Wenn Sie mit einem anderen großen Star gesungen haben,
etwa mit Frank Sinatra, gab es da nicht auch Konkurrenz? Nein. Zwischen uns gab es da nicht mehr
Konkurrenz, als wenn wir zusammen Whiskey getrunken haben. Obwohl: Das
stimmt nicht, wir haben gar keinen Whiskey getrunken, ich mag nämlich
keinen Whiskey. Wir haben die eine oder andere Flasche Petrus zusammen
geleert. Es heißt immer, Sie seien von Edith Piaf entdeckt worden. Stimmt aber nicht. Entdeckt hat mich der
Musikverleger Raoul Breton. Edith war die Erste, die mir voraussagte,
dass ich eine große Karriere machen würde. Ich bin mit ihr aufgetreten
und habe acht Jahre in ihrem Haus gewohnt. Ich habe alle andren kommen
und gehen gesehen, aber ich war immer noch da. Raoul hat dann
irgendwann gesagt: "Aus dir wird nichts werden, wenn du das Haus nicht
verlässt." Heute gibt es Castingshows. Wie finden Sie die? Ich schreibe gerade ein Buch über unser Metier,
in dem ich Nachwuchskünstlern ein paar Ratschläge gebe. Simple Dinge.
Wenn sie beginnen, Erfolg zu haben, gibt es immer irgendeinen, der
ihnen einen Cognac oder einen Whiskey anbietet. Dann trinken sie einen,
dann zwei oder drei, dann brauchen sie eine Flasche, bald ziehen sie
die erste Linie. So läuft das. Ich warne davor, ich sage den jungen
Leuten, das Metier ist bereits eine Droge, man braucht die anderen
Drogen gar nicht. Es gab einen Film über Edith Piaf, können Sie sich ihr Leben auch verfilmt vorstellen? Meine Tochter und mein Schwager beschäftigen sich damit. Man wird sehen. Sie kennen ja den Witz, oder? Welchen? "Wir drehen einen Film über Aznavour." "Aha, wer
soll denn Aznavour spielen?" - "Das macht Aznavour selbst." - "Aber der
ist doch zu klein." - Man muss die Dinge mit Humor nehmen. Neuerdings schreiben Sie auch Kurzgeschichten? Ja, ich bekomme für meinen Erzählband "Mon père,
ce géant" jetzt tatsächlich den "Prix de la nouvelle". Ich bin Sohn von
Einwanderern. Bei uns daheim wurde kein Französisch gesprochen. Ich
habe die Schule mit zehneinhalb abgebrochen - und heute bin ich
Schriftsteller. Sänger kann jeder werden. Aber Schriftsteller, da bin
ich schon stolz drauf. Und Ihr Werk ist heute schon Teil des kulturellen Erbe Frankreichs. Aber ich bin ja auch Franzose. Ich bin mehr
Franzose als Armenier. Obwohl ich sehr armenisch bin, durch meine
Kultur, meine Religion, die Vergangenheit meines Volkes, durch meine
Sprache und meine kulinarischen Vorlieben. Was ist denn an Ihnen besonders armenisch? Ich hatte früher kaum armenische Freunde. Seit
dem schweren Erdbeben 1988 habe ich durch meine Arbeit für Armenien
viele gewonnen. Wir haben viel gemeinsam. Wir sind alle Kinder von
Menschen, die man vertrieben und massakriert hat. Und trotzdem ist das,
was uns am meisten verbindet, das Lachen. Auf Ihrer letzten CD gibt es das Lied "Moi, je vis en banlieu", in dem Sie die Rolle eines jungen Einwanderers annehmen. Ich identifiziere mich mit Menschen, die ich
liebe. Die Kinder der Immigration sind meine eigenen Kinder. Wenn ich
ihnen helfen kann, tue ich es. Und die Lieder helfen ihnen. Schon wenn
sie so ein Lied hören, wissen sie, dass da jemand an sie denkt. Ich
habe ja selbst eine Benetton-Familie: eine Schwiegertochter aus Haiti,
einen algerischen Schwager, einen jüdischen Enkel, meine Frau ist
Schwedin, und ich bin armenisch. Es fehlt eigentlich nur noch eine
Chinesin. In vielen Ihrer Lieder geht es um den Verlust der Zeit. Wann hatten Sie das erste Mal das Gefühl, dass die Jugend verloren ist? Ich hatte nie das Gefühl. Ich hatte keine
Jugend! Meine Jugend war im Krieg, deshalb hatte ich keine. Nach dem
Krieg hat man mich oft gefragt: "Aber Sie haben ja während des Krieges
nicht für Radio Parisgesungen?" Dann kann ich nur sagen: "Nein, und
zwar, weil man uns nicht gebeten hat." Das ist die Wahrheit, natürlich
hätte ich gesungen, wenn man mich gefragt hätte. Natürlich war das Land
besetzt, aber man konnte ja die Leute deshalb nicht einfach verhungern
lassen. Da beklagt man sich, die Schauspieler seien aufgetreten, die
Sänger hätten gesungen, ja klar - von irgendwas musste man ja leben.
Aber trotzdem: Eine Jugend hatte ich nicht. Ich habe gearbeitet, seit
ich neun Jahre alt war. Die Jugend, die erlebe ich eigentlich jetzt. Also sind Sie nicht nostalgisch? Ich bin nicht nostalgisch. Ich verstehe
Nostalgie, ich schreibe Nostalgie. Aber schreiben ist lügen, vergessen
wir das nicht. Spielen ist lügen. Singen ist lügen. Man muss es so
ehrlich wie möglich tun. Das heißt, man muss sich unglücklich fühlen in
dem Moment, wo man singt. Und nicht so tun, als ob man unglücklich sei.
Das ist nämlich nicht das Gleiche. Ich sehe das im Blick des Sängers.