Der Teppichglobalisierer: Wie Pfarrer Lepsius nahöstliches Handwerk in den Harz importierte und später so Armenier rettete

Über frühe Hilfe zur Selbsthilfe erzählt Hermann Goltz, Theologe an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, im Gespräch mit Ildiko Röd.

MAZ:
In Ihrem Vortrag auf Schloss Lindstedt werden Sie über die
„Deutsche-Orient-Handels- und Industriegesellschaft“, kurz: Dohig,
referieren. Das klingt geheimnisvoll; fast wie nach Sindbad, dem
Seefahrer aus 1001 Nacht.

Hermann Goltz:
Fliegende Zauberteppiche werden zwar keine Rolle spielen, auch wenn
sich die Geschichte um Teppiche dreht. Dennoch hat die Geschichte der
Dohig schon fast märchenhafte Dimensionen, als ein Beispiel gelungener
Globalisierung vor über hundert Jahren. Allein ihre Gründung durch
Johannes Lepsius hat schon beinahe romanhafte Züge.

Wer war dieser Johannes Lepsius eigentlich?

Goltz:
Lepsius war der jüngste Sohn des Begründers der Ägyptologie in
Deutschland. Er wuchs in einem Elternhaus mit weitem intellektuellen
Horizont auf.

Und wie kam er dann zu so etwas Prosaischem wie der Teppich-Fertigung?

Goltz:
Eigentlich begann alles mit Johannes Lepsius’ Aufenthalt in Jerusalem,
wo er von 1884 bis ’86 als Lehrer und Pfarrer die deutsche Gemeinde
betreute. Dort lernte er auch seine spätere Frau Margarethe kennen. Sie
war als Kind deutscher Eltern in Nazareth aufgewachsen und kannte das
lokale Handwerk wie die Teppichfertigung natürlich sehr gut. Später
nahm Lepsius eine Pfarrstelle in der kleinen Harzgemeinde Friesdorf an.
Er sah die große wirtschaftliche Not der Menschen und erinnerte sich an
die orientalische Teppichherstellung. 1889 gründete er im Ort eine
Teppichmanufaktur, wo er 40 Frauen Arbeit gab.

Und das war dann die Dohig?

Goltz:
Nein. Denn die Geschichte geht ja noch weiter. 1895/96 erfuhr das
Ehepaar Lepsius nämlich von den ersten riesigen Massakern an den
Armeniern im osmanischen Reich. Damals wurden zwischen 200 000 und 300
000 Angehörige der Minderheit ermordet. Lepsius wollte helfen – also
„exportierte“ er die Friesdorfer Teppichfabrik in den Orient, in die
Stadt Urfa in Mesopotamien.

Aber waren die Orientalen nicht selbst begnadete Teppichknüpfer? Wozu brauchten sie da Aufbauhilfe aus Deutschland?

Goltz:
Es ging ja in erster Linie um die technische Unterstützung der
armenischen überlebenden Frauen und Mädchen, um Hilfe zur Selbsthilfe.
Die Friesdorfer Fachleute brachten deutsche Maschinen, die per Schiff
und Bahn ins osmanische Reich transportiert wurden. Die Armenierinnen
wurden in die Arbeit an diesen eingewiesen.

Und wurde die Manufaktur dann ein Erfolg?

Goltz:
Ja, ein großer. Über 1000 Menschen konnten sich in Urfa so ihren
Lebensunterhalt verdienen. Teppiche wurden sogar nach Großbritannien
oder in die Schweiz exportiert. Aber auch in Potsdamer Haushalten
könnten sich möglicherweise noch solche Exemplare befinden, von deren
Herkunft die jetzigen Besitzer vielleicht nichts ahnen.

Apropos Potsdam. Warum bezeichnen Sie in Ihrem Vortrag die Dohig eigentlich als „Brandenburger Unternehmen“?

Goltz:
Bereits 1897 zog Lepsius von Friesdorf nach Berlin. Hier in Berlin
wandelte er die Teppichfabrik Urfa in die Dohig um, eine internationale
Aktiengesellschaft mit etwa 200 Aktionären. 1908 übersiedelte Lepsius
dann nach Potsdam in die Große Weinmeisterstraße, so dass die Dohig im
Orient von der Mark aus geleitet wurde. Hier in Potsdam entstanden auch
seine bedeutenden Anklageschriften gegen den armenischen Völkermord
durch die Türken, der während des ersten Weltkriegs über eine Million
Opfer forderte.

Und wie ging es mit der Dohig weiter, die ihr Leitungsbüro ja unter anderem am heutigen Platz der Einheit hatte?

Goltz:
Das Erstaunliche ist, dass sie auch nach den großen Armenier-Massakern
weiterbestand. Überlebende aus Urfa, die nach Syrien oder in den
Libanon geflüchtet waren, belebten die alte Teppichmanufaktur neu. Sie
bestand bis 1934, in welchem Jahr der Sohn Alfred Lepsius die Dohig
endgültig auflöste. Alfred Lepsius hat übrigens auch die Korrespondenz
mit Franz Werfel geführt, der sich von Wien aus für seinen später
weltweit erfolgreichen Armenier-Roman „Die vierzig Tage des Musa Dagh“
mit der Familie Lepsius in Verbindung gesetzt hatte.

Vortrag „Ein Brandenburger Unternehmen im Orient“ am 16. November ab 11 Uhr im Schloss Lindstedt.