Brüssel - Rede 17. Dezember 2004

Liebe Freunde, wir sind heute hier zusammengekommen, um unserer Empörung darüber Ausdruck zu verleihen, daß die Erinnerung an den Genozid an der armenischen Bevölkerung in der osmanischen Türkei in den Jahren 1915/16 von der Europäischen Union einem politischen Kalkül geopfert wird.

In
der Diskussion um die Bedingungen für eine Aufnahme von Verhandlungen
mit der Türkei über einen EU-Beitritt findet der bis heute von der
Türkei geleugnete Genozid keine angemessene Berücksichtigung. Auch von
der Verantwortung gegenüber den Nachkommen der Opfer ist keine Rede.

Die
Haltung, die hierin zum Ausdruck kommt, widerspricht der europäischen
Wertegemeinschaft. Sie widerspricht ferner dem Konsens, daß auch die
Leugnung eines Völkermords zu verurteilen ist.

Freunde!
Wer
darauf verzichtet, die Frage der Anerkennung des Völkermords zu einer
Bedingung für die Aufnahme der Türkei zu machen, unterstützt die
Leugnung des Völkermords an den Armeniern!

Auf eine politische Leugnung muß aber eine politische Antwort gegeben werden!

Denn
die Leugnung verstößt gegen die Fundamente der Demokratie und gegen den
Sinn von Toleranz! Die Leugnung ist nicht tolerabel!

Die
Leugnung verstößt gegen die Menschenwürde des Opfers. Sie bedeutet
einen Angriff auf die Überlebenden und die Nachkommen der Verfolgten!

So
ist die Anerkennung des Genozids ein zentraler Prüfstein für den
Demokratisierungswillen der Türkei. Sie ist ein Prüfstein für die
Achtung der Menschenrechte und für den Schutz der Minderheiten in der
Türkei.

Die
Weigerung, den Genozid an den Armeniern anzuerkennen, ist ein Zeichen
dafür, daß das homogenisierende nationale Projekt der Türkei noch nicht
abgeschlossen ist.

Wer
die Anerkennung eines Völkermords verweigert, schließt Gewalt als
politisches Mittel auch heute nicht aus, wie sich an der Kurden- und
Minderheitenpolitik der modernen Türkei zeigt.

Eine Anerkennung des Genozids würde die Revision der gewaltvollen nationalistischen Politik der Türkei ermöglichen.

Zu
glauben, durch einen EU-Beitritt könnte die Türkei zur Verbesserung der
Menschenrechtslage gezwungen werden, ist eine Illusion.

Die
Türkei ist schon seit dem Zweiten Weltkrieg eng in die Entwicklungen in
Europa und in europäische Institutionen eingebunden. Doch haben diese
Mitgliedschaften in internationalen Institutionen Folter, Verfolgungen,
Enteignungen und Massaker in der Türkei nicht verhindern können.

Skepsis,
meine Damen und Herren, ist auch angebracht gegenüber den
Versprechungen der Türkei,Reformen durchzuführen. Die türkische
Geschichte ist eine Geschichte der Reformversprechen und der
enttäuschten Hoffnungen.


Die
Anerkennung des Völkermords an den Armeniern muß eine grundsätzliche
Voraussetzung sein für die Aufnahme von Verhandlungen mit der Türkei
über einen EU-Beitritt!

Nur
wenn die Türkei sich der eigenen Geschichte stellt, wenn sie endlich
die Politik der Leugnung aufgibt, und wenn sie Verantwortung gegenüber
den Nachkommen der Opfer übernimmt,
dann kann von einem wirklichen Reformwillen gesprochen werden.

Denn, liebe Freunde, die Erfahrung des Völkermords gehört zur Erinnerungskultur Europas.
Hier
muß Europa zu seiner Verantwortung stehen! Wir Armenier werden nicht
aufhören, mit aller Entschlossenheit für unsere Forderung zu kämpfen!

In diesem Sinne wünsche ich uns allen weiterhin Kraft, Ausdauer und Entschlossenheit!

Im Namen der Diozöse der armenischen Kirche in Deutschland
und des Zentralrates der Armenier in Deutschland

Dr. Schawarsch Owassapian, Vorsitzender