Im
Rahmen der zentralen Gedenkfeier in der Frankfurter Paulskirche - an
der circa 700 Personen, darunter viele Vertreter aus Politik und
Öffentlichkeit teilnahmen, so Mitglieder des hessischen Landtags aus
den Fraktionen der CDU, FDP und des Bündnis 90/Die Grünen und
Abgeordnete der Stadt Frankfurt - hielten Frau Angelika Beer,
Vorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen, und Herr Prof. Dr. Wolfgang
Benz, der Direktor des Zentrums für Antisemitismusforschung der TU
Berlin, die Gedenkreden.
Eröffnet
wurde die Gedenkfeier von Herrn Dr. Schawarsch Owassapian, dem
Vorsitzenden des Zentralrats der Armenier in Deutschland, der die
Teilnehmer und Gäste begrüßte. Besonders begrüßte er die Vertreter der
Aramäischen Gemeinde, deren Schicksal untrennbar mit der Geschichte des
Genozids an den Armeniern verbunden ist, und die Würdenträger der
Syrisch-Orthodoxen Kirche in Deutschland. Owassapian verwies auf die
große Bedeutung des Gedenktags, der über die Beschäftigung mit der
Vergangenheit hinaus insbesondere auch eine Auseinandersetzung mit der
Gegenwart einfordere. Denn Gedenken, so Owassapian, fragt danach, wie
das zu Gedenkende in unserer Gegenwart eingeordnet wird, es fragt also
nach unserer eigenen Stellung in und zu der Erinnerung. Gedenken ist
somit keine Frage passiver Trauer. Und auch eine symbolische
Anerkennung des Verbrechens allein reicht nicht aus. Sie bliebe eine
Leerformel, wenn sie nicht von verantwortungsvollem Handeln begleitet
wird.
In einer kurzen Ansprache brachte I. E. Frau Kazinian,
Bortschafterin der Republik Armenien, ihr tiefstes Bedauern über das
türkische Beharren auf der Leugnung des Völkermords von 1915/16 zum
Ausdruck.
In
Vertretung von Frau Oberbürgermeisterin Petra Roth sprach Herr
Jean-Claude Diallo, Mitglied des Magistrats der Stadt Frankfurt, ein
Grußwort, in dem er heraushob, daß die Stadt Frankfurt stolz sei, dem
Tag der Erinnerung an den Genozid an den Genozid an den Armeniern einen
Ort geben können, den die armenische Geschichte nicht zuletzt auch mit
der deutschen Geschichte verbände.
Mit
Frau Angelika Beer hatte sich erstmals eine Politikerin von Bündnis
90/Die Grünen zu einer Stellungnahme zum Genozid an den Armeniern
bereiterklärt. So war die Ansprache von Frau Beer von der Frage der
aktuellen politischen Einordnung des Genozids bestimmt. Gleich zu
Beginn wies sie darauf hin, daß es sehr schwierig sei, in einer
Ansprache zum Gedenktag für die Opfer die persönliche Perspektive von
der Perspektive als Vorsitzende einer Regierungspartei zu trennen. Im
Versuch der Bestimmung regierungspolitischer Handlungsräume führte Frau
Beer vor, wie schwierig es in Deutschland nach wie vor ist, Politik an
moralischen Verpflichtungen zu orientieren. In bezug auf die Frage der
Anerkennung appellierte Frau Beer an Ausgleich und Versöhnung und
erläuterte hier die Position der Regierungsparteien. Zwar sei die
Forderung der Armenier nach Anerkennung des Völkermords »legitim«, doch
dürfe nicht versucht werden, durch einen letztlich ideologisch
motivierten »Druck von außen« diese Anerkennung zu erzwingen - etwa
indem man die Anerkennung des Genozids zur Voraussetzung für eine
Mitgliedschaft der Türkei in der EU mache. Eine solche Forderung würde
einen Dialog und einen Prozeß der Versöhnung erschweren. Zwar
bezeichnete Frau Beer den Genozid als eine »unwidersprochene Tatsache«,
doch ohne die offizielle Leugnungspolitik der Türkei explizit zu
erwähnen, bleibt ein solches Zugeständnis eine Formel.
Prof.
Dr. Wolfgang Benz thematisierte mit einem eindrucksvollen historischen
Überblick, in dem er detailliert auf das historische Quellenmaterial
zurückgriff, Leitlinien der Entwicklung zum Völkermord. Nachdrücklich
skizzierte er die Konsequenzen der gewaltvollen Nationalpolitiken im
20. Jahrhundert und analysierte die Argumente der Leugnung von
Völkermord. So zeigte er auch die Implikationen für eine gegenwärtige
Politik auf und forderte nachdrücklich zu einer politischen Anerkennung
auf. Insbesondere hinterfragte Benz das Argument, daß in dieser Sache
nicht die Politiker und Abgeordneten gefragt seien, sondern die
Historiker. Die Historiker, so schloß Benz, »haben sich lange und
gründlich mit dem Völkermord an den Armeniern beschäftigt. Sollen sie
das weiter tun, damit die Politiker keine Konsequenzen aus der
Erkenntnis der Gelehrten ziehen müssen?«
Künstlerisch
umrahmt wurde die Gedenkfeier von der Violinsolistin Susanna Gregorian,
die Werke von Johann Sebastian Bach, Aram Khatschaturian und Komitas
eindrucksvoll interpretierte. Der Schauspieler Max Landgrebe rezitierte
neben Gedichten von Vahan Tekeian und Krikor Beledian auch den 1920
entstandenen Prosatext »Die schrecklichen Nächte« von Eugen Hoeflich
(Mosche Yaakov Ben-Gavriel), der Zeuge der Deportationen war. Diese
Zeugenschaft sollte ihn Zeit seines Lebens nicht loslassen. »Ich aber
rannte in die Wüste hinaus«, schrieb Hoeflich, »warf mich zu Boden, biß
meine Zähne in den Sand und stopfte Sand in meine Ohren. Das Schreien
vom Berge aber schwang sich, eine blutige Spur, hinter mir her. Es war
ein Schrei, der herabkam, ein langer unendlicher Schrei, der mitunter
in den Sand zu versickern schien, dann wieder aufbrach, sich teilte,
als wollte er in alle Richtungen der Welt sich werfen, hinwimmerte, zu
den Sternen wuchs, die Wüste umschloß und aus allen Einöden zurückkam.«
Der suggestiven, poetischen Kraft der Texte konnte man sich schwerlich
entziehen.
Die
Gedenkfeier endete mit einem gemeinsamen Gebet des Primas der
Armenischen Kirche in Deutschland Erzbischof Karekin Bekdjian, dem
Metropoliten der Syrisch-Orthodoxen Kirche Mitteleuropas Yesu Cicek und
Bischof Mor Dionysios Isa Gürbüz in armenischer und aramäischer Sprache.
Die
Gedenkveranstaltung, insbesondere die Rede von Frau Beer, die die Frage
der Anerkennung des Genozids so konsequent in den tagespolitischen
Diskussionen verortete, machte deutlich, daß man es heute einerseits
mit einer neuen Qualität der Anerkennung, andererseits mit einer neuen
Form der Leugnung zu tun hat.
So
zeigte das kritische Echo auf die Rede von Frau Beer in der Presse, daß
in den letzten Jahren ein unbestechliches Fundament von Stimmen
gewachsen ist, die nicht mehr bereit sind, die Leugnung des Genozids an
den Armeniern zu tolerieren. Ausführliche Auseinandersetzungen, in
denen die Tatsache des Genozids und seine Leugnung mit
uneingeschränkter Selbstverständlichkeit thematisiert wurden,
erschienen u.a. in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, der Frankfurter
Rundschau oder dem Tagesspiegel.
So machte die Veranstaltung eben
auch deutlich, daß es nicht mehr die Zeit ist, nur das Leid der
Armenier einzuklagen. Die Diskussion um die armenische Geschichte muß
sich heute den wesentlich differenzierteren Formen der Leugnung
stellen: so der Strategie, die Tatsache des Genozids anzuerkennen, doch
zugleich zu fordern, daß es mit diesem Satz auch genug sei und nun Zeit
sei, außerhalb der Schuldfrage einen Dialog zu suchen. »Doch wie kann
man einen Täter entlasten, ohne ihn vorher zu belasten?« fragte
Minister Steffen Reiche in Berlin.
Es
kommt also zukünftig auch darauf an, auf die Rhetorik der »Anerkennung«
zu achten. Nicht zuletzt bewies das Kommen von Frau Beer, daß die
Politik in Deutschland an der »armenischen Frage« nicht vorbei kann,
wenn sie die Türkei in die EU holen will.
Das
seit mehreren Jahren konsequent verfolgte Ziel des Zentralrats, die
Gedenkfeiern an den Genozid von 1915/16 in einem ernsthaften Rahmen zu
gestalten und bekannte Persönlichkeiten aus Politik und Wissenschaft
einzuladen, folgte zwei Zielen: einerseits eine Basis für ein Echo der
Akzeptanz in Politik und Öffentlichkeit zu erreichen, andererseits die
Bedeutung des Genozids für die armenischen Gemeinschaft selbst zu
erinnern, die Bedeutung dieses radikalen Bruchs in unserer Geschichte
nicht hinter dem Kampf gegen die Leugnung zurücktreten zu lassen.
Um
einen Eingang in die politischen Diskussionen und Erwägungen zu finden,
muß es gelingen, die armenische Erfahrung und die mit ihr verbundenen
Forderungen in den gültigen Spielregeln der Politik zu verankern - und
auf Dauer zu institutionalisieren. Dazu gehört, nicht nur die Argumente
der Tagespolitik zu kennen, sondern auch Formen zu wählen, die
innerhalb der politischen Kultur Akzeptanz finden.
Wir
dürfen uns heute erlauben, zu sagen, daß dieses Streben beginnt,
erfolgreich zu sein. Denn über die symbolischen Akte gegen die Leugnung
hinaus ist es wichtig, den Argumenten der Leugner gewachsen zu sein:
gegen wissenschaftliche und politisch hochdifferenzierte
Argumentationssysteme nützt allein der Versuch, ein Bewußtsein für die
Verpflichtungen an die armenische Erinnerung in Politik und
Öffentlichkeit zu verankern.
Die Reihe der Artikel und Leserbriefe
in großen Tageszeitungen, in denen die Positionen der aktuellen Politik
scharf kontrastiert wurden, zeigte in diesem Jahr die gewachsene
Relevanz aus, die heute der Erinnerung an den Genozid an den Armeniern
zugesprochen wird.
An
dieser Entwicklung haben nicht zuletzt Persönlichkeit großen Anteil,
die in unseren Gedenkveranstaltungen wiederholt ihre Stimme für die
Erfahrung der Armenier erhoben haben. In ihrer eindeutigen Haltung
gehören hierzu insbesondere Herr Dr. h.c. Ralph Giordano, der auch in
diesem Jahr an der zentralen Gedenkfeier teilgenommen hat oder - unter
den Politikern in der Bundesrepublik bis heute leider noch eine der
wenigen Ausnahmen - Herr Minister Steffen Reiche (vgl. hierzu
ausführlich den Bericht der Armenischen Gemeinde zu Berlin).
Wir
werden uns gemeinsam mit der Diözese der Armenischen Kirche in
Deutschland bemühen, diesen eingeschlagenen Weg fortzusetzen, wichtige
Repräsentanten des gesellschaftlichen, kulturellen und politischen
Lebens der Bundesrepublik in unsere Gedenkveranstaltungen einzubinden,
ja: auch den Mut zu haben, Repräsentanten des aktuellen politischen
Tagesgeschehens mit der Aufforderung zu konfrontieren, Stellung zu
beziehen.
Bei
dieser Gelegenheit möchten wir allen, die uns bei unserer Arbeit
unterstützt haben, ausdrücklich danken, und hoffen, daß uns diese so
wichtige Unterstützung auch weiterhin von der armenischen Gemeinschaft
in Deutschland gewährt wird.
Für die gute Zusammenarbeit danken
wir insbesondere der Diözese der Armenischen Kirche in Deutschland,
S.E. Erzbischof Karekin Bekdjian.
Für den Zentralrat der Armenier in Deutschland
Dr. Schawarsch Owassapian, Vorsitzender
Dr. Raffi Bedikian, Stellvertr. Vorsitzender
im Mai 2004