Wir begrüßen insbesondere Ihre klare Positionierung am 2. März 2023, wonach der Streit zwischen Armenien und Aserbaidschan nur auf der Grundlage des Grundsatzes der territorialen Integrität beider Länder sowie des unveräußerlichen Rechts auf Selbstbestimmung der Bürgerinnen und Bürger von Bergkarabach beigelegt werden kann.
Am 1. Juni treffen Sie gemeinsam mit Emmanuel Macron Premierminister Paschinjan und Präsident Alijew in Chişinău – eine einzigartige Gelegenheit, den drängenden Konflikt anzugehen und die Bedürfnisse und den politischen Willen der Bevölkerung von Bergkarabach in den Fokus zu rücken. Es ist von allergrößter Wichtigkeit, dass eine Lösung gefunden wird, welche die völkerrechtlich legitimierten Ansprüche der armenischen Bevölkerung vor Ort im Blick hat. Der Grund liegt auf der Hand: jegliche Vereinbarung, die diesen Ansprüchen nicht angemessen Rechnung trägt, wird unvermeidlich zu einer ethnischen Säuberung der Armenier aus ihrer angestammten Heimat führen, die für die armenische Gemeinschaft weltweit einem neuerlichen Völkermord gleichkäme. Die dokumentierten Aggressionen und akuten Menschenrechtsverletzungen Aserbaidschans sowie die äußerst entmenschlichende Rhetorik Bakus lassen in dieser Sache keine Zweifel übrig: Seit dem Krieg 2020 wurden mehrere in Gefangenschaft geratene Armenier vor laufender Kamera enthauptet, ihre Leichen verstümmelt und die Videos anschließend ganz bewusst in den sozialen Medien verbreitet. Seit über fünf Monaten hat Aserbaidschan zudem den einzigen Zugang zu Bergkarabach blockiert und die Menschen dort der Lebensmittelknappheit, Krankheit und winterlichen Kälte überlassen – klare Anzeichen, dass Alijews Zusicherungen auf Minderheitenschutz bloße taktische Lippenbekenntnisse sind.
Wiederholt und unverhohlen haben Regierungsstellen in Aserbaidschan ihre Absicht zum Ausdruck gebracht, die armenische Bevölkerung aus Bergkarabach zu vertreiben und die Jahrtausende alte armenische Präsenz in der Region zu eliminieren. Diese unzweifelhaft genozidale Intention darf die Völkergemeinschaft weder ignorieren noch unterschätzen, sondern muss sie unumwunden verurteilen und ihr mit wirksamen Maßnahmen entgegentreten. Dies lehren die historische Erfahrung des Völkermordes an den Armeniern im Osmanischen Reich sowie nicht zuletzt auch der Holocaust, dessen Feuer mit ähnlich entmenschlichender Rhetorik und Schikanen entfacht wurde.
Deutschland hat sich in der Bundestagsresolution vom 02.06.2016 dazu verpflichtet, sich entschieden der Verantwortung zu stellen, die aus dem Völkermord an den Armeniern erwächst, und sich jeder Form des Genozids – jeder ethnisch begründeten Bedrängung, Unterdrückung, Verfolgung und Vertreibung – energisch entgegenzustellen. Wir ersuchen Sie hiermit nachdrücklich im Sinne dieser Selbstverpflichtung, das anstehende Treffen mit den Regierungschefs von Armenien und Aserbaidschan entsprechend vorzubereiten, das Gewicht ihrer Position und alle Möglichkeiten und politischen Mittel als deutscher Bundeskanzler dafür einzusetzen, dass die Gefahr eines neuerlichen Genozids von der armenischen Bevölkerung in Bergkarabach abgewendet wird.
Mit ausgezeichneter Hochachtung
Jonathan Spangenberg
Im Namen vom Vorstand des
Zentralrates der Armenier in Deutschland