Nach dem Zwischenfall in Baden-Württemberg (die ZGS berichtete am 26.04.2019 über die Räumung der Gedenkveranstaltung), musste auch die am 27.04.2019 von Zentralrat der Armenier und der Diözese der Armenischen Kirche in Deutschland organisierte zentrale Gedenkveranstaltung für die Opfer des Genozids an den Armeniern im Osmanischen Reich ohne einen der Hauptredner erfolgen.
Es sollte eine englischsprachige Gedenkrede für die bis zu 1,5 Millionen armenischen Opfer werden, die vor 104 Jahren in der Türkei systematisch ermordet wurden, ein Vortrag über die Perspektiven der Institutionalisierung des Gedenktags in Deutschland am Beispiel Frankreichs. Der vorgesehene Redner, Herr Mourad Franck Papazian, Co-Präsident des Koordinierungsrates der Armenischen Vereine in Frankreich, hatte selbst einen wichtigen Beitrag zur Ausrufung des 24. April als eines nationalen Gedenktag in Frankreich für die Opfer des Genozids an den Armeniern geleistet. Doch während die Gedenkveranstaltung im Baden-Württembergischen Bad Cannstatt wegen eines möglichen Anschlags auf die Lutherkirche aus Sicherheitsgründen verschoben werden musste, musste der prominente Hauptredner der zentralen Gedenkfeier in Frankfurt wenige Stunden vor der Veranstaltung seine Teilnahme wegen akuter Sicherheitsbedenken absagen. Er habe eine Warnung der französischen Sicherheitspolizei erhalten, dass er eine Zielscheibe türkischer Extremisten in Deutschland werden könnte.
Nach den Zwischenfällen in Bad Cannstatt und in Frankfurt am Main, muss der Zentralrat der Armenier in Deutschland nun in die Diskussion einsteigen. Der Vorsitzende, Herr Dr. Owassapian, bezeichnete die Vorfälle als „eine neue Dimension von Einschüchterungsversuchen gegenüber den armenischen Gemeinden in Deutschland“, die von der deutschen Regierung viel zu wenig beachtet und ernstgenommen werden würden: „Es ist eine Schande, dass das Gedenken an die Opfer eines Völkermordes durch Drohungen und Störungen beeinträchtigt und behindert wird. Dies ist nicht nur ein Armutszeugnis für die deutsche Demokratie, sondern auch eine Widerspiegelung des aus der Türkei systematisch exportierten und in Deutschland viel zu lange tolerierten Armenier-Hasses. Wir sind alle zutiefst bestürzt und schockiert, dass so etwas in Deutschland geduldet wird und niemand seine Stimme erhebt“. „Man fragt sich“, so Owassapian, „wo nach der Bundestagsresolution des Jahres 2016 die klaren und lauten Verurteilungen aus Politik, Medien und Zivilgesellschaft bleiben“. Trotz der Resolution und der darin offiziell eingestandenen Mitschuld am Völkermord an den Armenier setzt sich die Bundesrepublik Deutschland mit diesem Teil ihrer Geschichte nicht ansatzweise auseinander.
Offenbar können die Armenier in Deutschland nicht einmal ungestört an die Vorfahren und die Opfer des Völkermords gedenken. Die türkische Leugnungspolitik hat damit in Europa neue Dimensionen erreicht. Gegen die systematisch verfolgte Leugnungspolitik der Türkei brauchen wir gerade deswegen eine Institutionalisierung der Erinnerung an den Genozid an den Armeniern in Deutschland. Die Erinnerung an den Völkermord an den Armeniern muss Teil des erinnerungspolitischen Diskurses in Deutschland und Europa werden.
Nach der Bundestagsresolution des Jahres 2016 sind aber keine weiteren Schritte in dieser Richtung unternommen worden. Die in der Resolution angesprochenen Ziele und Maßnahmen wurden nicht ansatzweise umgesetzt. Der Gedenktag selbst findet kaum Resonanz in Politik und Öffentlichkeit, er bleibt vielmehr weiterhin ausschließlich der armenischen Gemeinschaft selbst überlassen. Von einigen Intellektuellen und Politikern abgesehen, zieht die Politik in Deutschland es vor, den Genozid an den Armeniern zu „ignorieren“ und ihn vor allem als „Hindernis“ in der Türkeipolitik zu betrachten. Es entsteht der Eindruck, dass mit der Resolution nachgerade ein Schlussstrich für die Politik gezogen werden sollte. So erfährt der Völkermord an den Armeniern nicht die Bedeutung, die ihm angesichts der Verwobenheit Europas und insbesondere Deutschlands mit dieser Geschichte zukommen sollte.
Der Völkermord an den Armenier wird nach wie vor von der Türkei geleugnet. Sie will nichts von einem Genozid wissen. Der erste Völkermord im Europa des 20. Jahrhunderts darf aber nicht den politischen Rücksichtnahmen gegenüber der Türkei geopfert werden. Die Nachkommen der Opfer und Überlebenden sollen nicht nur symbolisch des schmerzhaftesten Tags der armenischen Geschichte gedenken können, das Gedenken ist auch eine Mahnung zur Verhinderung weiterer Völkermordverbrechen. So dürfen gerade in Deutschland die 1,5 Millionen Opfer und die Zerstörung des Kulturerbes der ersten christlichen Nation nicht aus politischen Gründen verschwiegen werden. Wir erwarten daher, dass der 24. April in der Bundesrepublik Deutschland in einer angemessenen Form institutionalisiert wird und endlich Aufnahme findet in den Kalender des Gedenkens der Bundesrepublik Deutschland.