Armenier, Journalist und Herausgeber der in armenischer und türkischer Sprache erscheinenden Wochenzeitung AGOS. Ermordet vor neun Jahren.
Der politisch links engagierte Armenier wurde unzählige Male, aus nichtigen Anlässen – etwa wegen der Beleidigung des Türkentums nach Art. 301 Strafgesetzbuch – vor Gericht zitiert und befand sich bereits in jungen Jahren mehrere Monate im Gefängnis.
Damit wurde er, nicht erst kurz vor seiner Ermordung, sondern sehr früh zum Staatsfeind erklärt, ungehört seiner Aufrufe zur Versöhnung zwischen den Völkern. Man hat seine Äußerungen aus dem Kontext gerissen und den, der sich gegen Rassismus engagiert, zu einem Rassisten erklärt.
Bei der Suche nach der Ursache dieser unglücklichen Entwicklung bedarf es eines Blickes auf die Situation der Armenier in der Türkei nach dem Genozid.
Sie hatten alle ein Vielzahl ihrer Familienmitglieder verloren und gehörten zum dem kleinen Rest, der die Massaker überlebt, es aber nicht ins Ausland geschafft hatte.
Die nachgenozidale Führung der Türkei erwies sich in seinen Anfängen zwar weniger islamistisch als es das osmanische Reich war. Doch der menschenverachtende Nationalismus zeigte sich als ununterbrochene Fortsetzung der faschistischen Jungtürken des Reiches.
Nicht nur die folgenden Kriege, im Besonderen gegen die Griechen, sondern auch die Türkisierungspolitik Atatürks nahm den letzten verbliebenen Minderheiten einen Großteil ihrer Identität.
Die Türkisierung geographischer Namen machte aus der Insel AGHTAMAR die Insel AKDAMAR. Das ursprünglich armenische Sevaverag, abgeleitet aus den Worten SEV AVERAG (armenisch für “schwarze Ruinen”) wurde zu SIVEREK, und Westarmenien wurde zur neuen türkischen Republik.
In einem weiteren Schritt folgte die Türkisierung der Familiennamen. Die Überlebenden der Familie Torossian waren nun die Karahans, und den Seferians wurde der Name Sefer erteilt.
Es folgten das Massaker von Dersim 1938, die Septemberprogrome 1955, die Besetzung Zyperns 1974, vieles dazwischen und danach.
Die versäumte Ahndung des Genozides begünstigte die Gefahr der Widerholung des einen oder anderen Massakers, gleich ob dieser in seiner Erscheinungsform nationalistisch oder islamistisch zu Tage trat.
All diese Umstände führten dazu, dass sich die christlichen Minderheiten der Türkei nachgenozidal in Unsichtbarkeit übten.
Viele von ihnen werden eigene Erinnerungen an die Zeit vor der Ausreise nach Deutschland im Rahmen des Gastarbeiter-Abkommens haben. Die Kreuzkette unter dem Pullover, die unverhoffte Aufforderung auf der Straße, “Türkçe konuş vatandaş” – sprich türkisch, Staatsbürger!
Armenier in der Türkei haben dennoch lange Zeit – diesen schwierigen Umständen entsprechend – ein gutes Leben gelebt. Eigene Schulen und Kirchen waren ihnen, aufgrund historischer Abkommen, lange Zeit sicher. Man pflegte in Istanbuler Kreisen – anders als im Osten des Landes – eigene Traditionen ohne anzuecken.
Um dies zu bewerkstelligen, war die politische Interessenvertretung tabu. Hrant Dink hat genau dieses Tabu durchbrochen; gar nicht mal im besonderen Auftrag einer ausschließlich armenischen Interessenvertretung. Es ging ihm nicht um Anklage, um finanzielle Schadensersatzleistungen oder um Landnahme.
Sein Hauptanliegen war die Versöhnung zwischen den Armeniern und Türken, die Tür an Tür in der Türkei ihr Leben teilten.
Gleichwohl wusste er, dass eine Versöhnung der Ehrlichkeit und der mutigen Aufdeckung von Wahrheiten bedarf.
Die türkischen Strafgerichte hatten die Aussagen Dinks aus dem Zusammenhang genommen, umgedeutet und letzten Endes den Begriff des “vergifteteten Blutes” nur als Vorwand benutzt, um Dink zu bestrafen, weil er den türkischen Staat und dessen Weigerung, den Genozid anzuerkennen, kritisiert hatte.
Sein Erfolg, die Zustimmung, welche ihm nicht nur von armenischer Seite, sondern auch von liberal-türkischer und internationaler Seite entgegen gebracht wurde, stieß auf. Sie kostete ihm am Ende das Leben.
Bei der Festnahme des nur 16jährigen Täters posierten die das Amt inne habenden Polizeibeamten mit einer türkischen Fahne. Sie waren nicht stolz des Ermittlungsergebnisses, sondern der Tat. Für Vaterland und Umma.
Man stelle sich das bei der Festnahme des NSU-Mitgliedes Beate Tschäpe vor.
Der Prozess gegen Ogün Samast fand unter Ausschuss der Öffentlichkeit statt. Der Täter war geständig. Im Juli 2011 wurde Ogün Samast für schuldig befunden, Hrant Dink am 19. Januar 2007 ermordet zu haben und zu einer Haftstrafe von 22 Jahren, zehn Monaten verurteilt.
Der Polizist, der sich mit Samast auf dem Foto abbilden ließ, stieg 2012 zum Generaldirektor der Polizei in Malatya auf.
Die Politik verurteilte die Tat. Den Beleidsbekunden fehlte die Glaubhaftigkeit.
Die Gesellschaft, 2007 gab es oberflächlich etwas weniger Islamismus und Nationalismus als heute, zeigte eine Soldarität mit dem Verstorbenen ebenso wie mit dem armenischen Volk.
Hepimiz ermeniyiz. Wir alle sind Armenier.
Die Solidarität mit dem “armenischen Volk” hat bis heute angehalten, jedenfalls wenn es um den 19.01.2007 geht.
Vor dem 19.01.2007, etwa während der Strafverfahren gegen Hrant Dink, nach Art. 301 türkisches Strafgesetzbuch, ein Einstehen für Armenier, oder zumindest die Meinungsfreiheit der Minderheiten, war diese Art der Solidarität aus der türkischen Gesellschaft nicht in dem Ausmaß, gar kaum, zu vernehmen.
Auch der seit Anfang 2014 inhaftierte Sevan Nisanyan, ebenfalls ein bekannter, armenischer Autor, wartet wohl vergeblich auf eine Großdemonstration, die Solidarität bekundet.
Es drängt sich der Verdacht auf, dass in der Türkei nur ein toter Armenier ein guter Armenier sein kann.
Eine Dink – Gedenkveranstaltung hat sich inzwischen zu einer türkischen Tradition, zur Tradition der türkischen Linken, entwickelt. Viele türkische Vereinigungen, in der Türkei wie in Deutschland, veranstalten, teilweise unabhängig von armenischen Akteuren, Gedenkveranstaltungen.
Das Betrauern fällt leichter als das Verteidigen und Verhindern. Denn es hat weder gesellschaftliche noch staatliche Konsequenzen.
Die Solidarität geht jedoch nicht soweit, als dass man sich immer ehrlich mit der Geschichte des Genozides befasst und auseinandersetzt.
Man will die Versöhnung,
jedenfalls galt dies für den Zeitraum vor der Radikalisierung der Türkei mit Blick auf den sog. IS / Islamischen Staat,
man will die Versöhnung, in den Sphären der modernern bzw. liberaleren Gesellschaft, nicht selten ohne die detaillierte Aufarbeitung der Geschichte.
Durch nicht wenige Akteure wird dem Leid der Armenier das sog. Leid der Türken resp. Osmanen gleichgesetzt. Aus dem Genozid wird ein Krieg. Aus dem schrecklichen Verbrechen ein schrecklicher Fehler.
Ein Verbrechen bedarf – nach heutigem Rechtsverständnis – eines Strafverfahrens und einer Verurteilung. Ein Fehler hingegen impliziert ein Versehen. Es verharmlost und schmälert die Strafwürdigkeit der Tat.
Die langfristige Versöhnung wird eines essentiellen Momentes beraubt; der ehrlichen, detaillierten, öffentlichen Aufarbeitung.
Dem Türkentum wird das Gesicht bewahrt. Der Türkische Staat schützt sein Vermögen.
Mit der Verhaftung von Ogun Samast wurden weitere 18 Verdächtige festgenommen bzw. angeklagt. Bis auf den jugendlichen Haupttäter und einen Anstifter, Yasin Hayal, wurden alle freigesprochen. Es zeigte sich wieder die, spätestens 1915 entstandene, Tradition des türkischen Staates – Vertuschen und Verleugnen.
Das türkische Strafgericht stellte mit der Urteilsverkündung fest, es habe keine Organisation gegeben, die hinter dem Mord gestand habe. Der Geheimdienst wurde niemals vorgeladen. Dabei gab es Hinweise, die auf eine Verbindung von Samast und rechtsradikalen Parteifunktionären höheren Ranges deuteten.
Hrant Dink hatte gegen seine strafrechtliche Verurteilung noch zu Lebzeiten Beschwerde beim EGMR in Straßburg eingelegt. Nach der Ermordung erhoben seine Frau und weitere Familienmitglieder Klagen gegen den türkischen Staatsapparat. Ihre Beschwerden hatten alle Erfolg und die Türkei musste ihnen zusammen 105.000 Euro Schadensersatz bezahlen.
Das Gericht war der Überzeugung, die Türkei habe das Lebensrecht von Hrant Dink verletzt, weil die Sicherheitskräfte den Hinweisen auf Dinks geplante Ermordung nicht nachgingen. Die Polizei und die paramilitärische Gendarmerie im nordtürkischen Trabzon sowie die Polizei in Istanbul, so der Gerichtshof, wussten von Anschlagsplänen, blieben aber dennoch untätig.
Die unwillige Aufklärung des Mordes in der Türkei und vor allem seiner Hintergründe begründeten den Schadensersatzanspruch in einem letzten Schritt.
Es bleibt dabei. Die Türkei hat mit jedem Mord an einem Armenier ein Problem mit der Aufarbeitung – seit 1915.
Die internationale Weltgemeinschaft trägt ihren Anteil an der Verantwortung, damals wie heute.
Geopolitisch strategische Interessen gewähren der Republik Türkei wieder und wieder eine unbegreifliche Narrenfreiheit.
Das Feindbild “Armenier” hat sich über einen Zeitraum von über 100 Jahren gehalten. Es wurde allenfalls um weitere Minderheiten erweitert: Aramäer und Griechen, Christen, Juden und Konvertiten, Aleviten und Kurden.
Der in einer erschreckenden Breite gepflegte Hass gegenüber Minderheiten wird auch heute wieder aktuell, im Falle der Kurden, im sogenannten Kampf gegen die PKK. Denn selbst dieser Kampf wird auf die Armenier projiziert.
Ich erinnere an die letzte propagandistische Wahlwerbung der AKP.
Der Kommandant des PKK-Kämpfers heisst ARARAT. Armenischer kann eine Name nicht sein.
Ararat gibt den Schießbefehl. Ararat lässt sich von der kurdischen Volkszugehörigkeit des türkischen Soldaten, auf den der Lauf des Gewehres gerichtet ist, nicht abbringen. Der Armenier steht hinter der PKK.
Mit dieser Zusammenführung von Feindbildern wird nicht nur der erwünschte Hass in einem Schmelztiegel konzentriert. Man erklärt die PKK-Kämpfer zu einer Marionette der Ungläubigen und angelt damit nicht wenige Kurden, die sich vorrangig über die sunnitische Religion, und nicht über die kurdische Ethnie, definieren. Ein Weckruf sondergleichen: Der Gläubige wird vom Ungläubigen benutzt.
Auch die aktuellen Massaker an den Kurden, ob Cizre, Diyarbakir oder Silvan beißen sich an “dem Armenier” fest. Per Lautsprecher werden unschuldige Menschen samt Kinder aus ihren Häusern vertrieben, mit den Worten “ihr armenischen Bastarde!”
Der Begriff des Armeniers ist in der türkischen Sprache ein größeres Schimpfwort als der des Ungläubigen, und stets Gegenstand eines Beleidigungsprozesses.
Der türkische Nationalismus wendet sich gegen jeden einzelnen Armenier, der sich in die Öffentlichkeit wagt.
Dies gilt nicht nur für populäre Autoren wie Dink und Nisanyan. In Deutschland etwa geht es jenen, die sich auf das politische Parkett trauen, nicht anders. Die Existenz eines einzigen Armeniers hat die Kraft, in einem Gremium zueinander in streitiger Konkurrenz stehende Islamisten der Milli Görüs mit den Faschisten der CHP, und allem was dazwischen liegt, zu einen.
Wahlergebnisse in der Türkei zeigen, dass sich die Gesellschaft in seinem Kern nicht geändert hat.
Gleiches gilt für die Tatsache, dass der IS die Türkei als Erholungsort und Rekrutierungszentrale nutzen darf, ohne gesellschaftliche Gegenwehr fürchten zu müssen.
Dass die AKP in Deutschland europaweit die besten Ergebnisse eingeholt hat, zeigt uns allen, dass dieser Rassismus nach Deutschland exportiert wurde.
Die Tatsache, dass der türkische Staat in der BRD, über viele von ihm abhängige Organisationen, nicht nur Fuß gefasst hat, sondern bei jedem einzelnen politischen bzw. kulturellen Begehr dazu neigt, alle vorhandenen Kräfte zu mobilisieren, ist erschreckend. Ob Uni-Vorlesung, Theateraufführung oder die Aufstellung eines Gedenksteines irgendwo in Deutschland, alles darf mit geballter politischer Gegenwehr rechnen.
Dies zeigt, dass es nicht nur um Hrant Dink geht, oder nur um den vor 100 Jahren erfolgten, vermeintlich abgeschlossenen, Genozid. Es geht dem türkisch-islamistischen Faschismus um jeden einzelnen Armenier, der noch lebt und das Tabu bricht, das ihm vorgegeben ist: die politische Unsichtbarkeit.
Wir, die Nachkommen der Überlebenden erinnern den türkischen Nationalismus an die Schuld seiner Väter und Großväter. Wir erinnern daran, dass unsere Toten letztendlich die wirtschaftliche Grundlage für das Entstehen des türkischen Staates bildeten; aber auch daran, dass die Vollendung des Genozides nicht geglückt ist.
Daher möchte ich die Gelegenheit nutzen und dazu aufrufen, sich zu zeigen. Armenier müssen sich der ihnen (menschen-)rechtswidrig vorgegebenen politischen Unsichtbarkeit entledigen. Steht auf! Erhebt Eure Stimmen, nicht nur am 19.01. oder 24.04. eines Jahres, sondern jeden Tag. Zeigt, dass es uns gibt. Immer noch. Zeigt, dass wir eine politische Meinung haben. Nicht nur zum Genozid, sondern zu allem; gerade auch in Deutschland.
Hrant Dinks mutiges Wirken sei uns allen ein Vorbild.
Stuttgart, 17.01.2016,
Jaklin Chatschadorian,
Vorsitzende des Zentralrates der Armenier in Deutschland e.V.