Für den umstrittenen Vorschlag stimmte eine klare Mehrheit von Abgeordneten aus allen Fraktionen, von den Konservativen bis hin zu den Kommunisten. Das Gesetz, das noch vom Senat gebilligt werden muss, belastet das französisch-türkische Verhältnis schwer. Die Türkei berief ihren Botschafter nach Ankara zurück, legte die militärische Zusammenarbeit mit Paris auf Eis und setzte die bilateralen Besuche aus.
Der türkische Regierungschef Recep Tayyip Erdogan sagte, das Pariser Votum habe dem türkisch-französischen Verhältnis „sehr schwere und irreparable Wunden“ zugefügt. Der Streit könnte auch Auswirkungen auf die Beitrittsaussichten der Türkei zur EU haben. Die armenische Regierung dankte Frankreich.
Die Regierung in Paris argumentiert, das Gesetz erwähne weder die Armenier noch die Türkei. Es bedrohe allgemein jeden, der einen in Frankreich anerkannten Völkermord leugne, mit Gefängnis bis zu einem Jahr oder einer Geldstrafe. Bisher hat Frankreich aber ausschließlich die Genozide an den Juden und an den Armeniern anerkannt. Da die Leugnung des Holocausts bereits strafbar ist, betrifft das neue Gesetz daher nur die Verbrechen an den Armeniern.
Von 1915 bis 1917 ließ die jungtürkische Regierung im Osmanischen Reich nach Ansicht vieler Historiker mehr als eine Million Armenier in Massakern und Todesmärschen umbringen, um die Armenier auszurotten. Die Türkei bestreitet das und behauptet, es seien 300 000 bis 500 000 Armenier infolge von Kriegswirren und notwendigen Umsiedelungen gestorben. Das Parlament in Paris erließ 2001 ein Gesetz, in dem es heißt: „Frankreich erkennt den Völkermord an den Armeniern von 1915 öffentlich an.“ Seitdem wird gestritten, ob eine Leugnung dieses Genozids bestraft werden soll.
Die Befürworter argumentieren, die Armenier müssten geschützt und künftige Massenverbrechen verhindert werden. Zudem sei es unerträglich, wenn die Türkei einen Völkermord verschweige. Die Sozialisten erinnerten in der Parlamentsdebatte an die Mahnung des Holocaust- Überlebenden Elie Wiesel, wer Genozid-Leugner toleriere, töte die Opfer ein zweites Mal. Allerdings gibt es in Frankreich auch viele Kritiker des Gesetzes, die um die Meinungsfreiheit fürchten. Sie argumentieren, die konservative Regierung wie die sozialistische Opposition wollten damit nur die Stimmen der armenischstämmigen Franzosen fangen.
Michel Diefenbacher von der regierenden UMP-Partei warnte, es sei gefährlich, in einer fragilen Region wie Kleinasien Öl ins Feuer zu gießen. Der Historiker Pierre Nora meinte: „Geschichtsschreibung ist nicht die Aufgabe von Politikern.“ In Paris demonstrierten am Donnerstag Tausende Franzosen türkischer Abstammung gegen das Gesetz.
Indessen zeichnete sich in anderen EU Ländern eine ähnliche Debatte ab. In Deutschland forderte der Zentralrat der Armenier nun auch ein ähnliches Gesetz in der Bundesrepublik. Der Bundestag müsse den vom Osmanischen Reich verübten Völkermord von 1915 anerkennen und damit die Möglichkeit schaffen, die Leugnung der Verbrechen strafrechtlich zu verfolgen, forderte der Rat in Frankfurt.
Süddeutsche Zeitung, 23. Dezember 2011
67. Jahrgang, Nr. 296
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