Der Völkermord an den Armeniern wird in Israel weiterhin kein Thema sein. Mit 16 gegen 12 Stimmen beschloss eine Mehrheit der Abgeordneten des israelischen Parlaments, eine Debatte über die türkische Verantwortung zu dem Massenmord nicht zuzulassen und das Thema von der Tagesordnung zu streichen.
"Eine schandhafte Abstimmung", sagten Vertreter des armenischen Patriarchats von Jerusalem. Sie hatten in ihren schwarzen Ornaten und großen goldenen Kreuzen auf der Brust auf der Ehrentribüne der Knesset verfolgt, wie Chaim Oron (Meretz-Partei) seinen Antrag für eine Debatte begründete. Viele Parlamente hätten schon eine Beschließung zum Armeniermord verabschiedet. In Deutschland wird gar die Weigerung der Türkei, sich zu dem Massenmord zu bekennen, als moralisches Argument gegen ihre Aufnahme in die EU angebracht.
Dem Genozid 1915 fielen bis zu 1,5 Millionen Armenier zum Opfer. Ebenso viele Menschen wurden deportiert. Die Türkei bestreitet den Völkermord. Im Kriegsgeschehen seien ebenso viele Türken von Armeniern abgemetzelt worden.
Thema "realpolitisch nicht opportun"
Immer wieder, so Oron, sei der Genozid an den Armeniern auf die Tagesordnung der Knesset gesetzt. "Das ist keine Frage von links oder rechts." 1990 hätten sich dutzende Intellektuelle und Politiker, darunter der linke Schriftsteller Amos Oz und der konservative Mosche Schamir, zu einem gemeinsamen Aufruf zusammengetan: "Ausgerechnet als Söhne eines Volkes, das einen in der Menschheit vergleichlosen Holocaust durchmachte, als Söhne eines Volkes, das heute gegen die Verleugnung (der Schoah) ankämpft, müssen wir eine besondere Sensibilität für das Unglück eines anderen Volkes kundtun. Wir dürfen dem Wegschauen vom Völkermord an den Armeniern nicht zustimmen."
Oron bestätigte, dass die Regierung "mit viel Energie" Druck auf ihn ausgeübt habe, das Thema zu streichen. Es sei "politisch aufgeladen" und "realpolitisch nicht opportun", in der Knesset über den Armeniermord zu reden und so die guten Beziehungen zur Türkei zu gefährden.
Diplomaten und Politiker wurden immer wieder gerügt, wenn sie sich in politisch nicht korrekter Weise zu dem Thema äußerten. Nach Protesten der Türkei musste eine armenische Lehrerin einen Text ändern, den sie am israelischen Unabhängigkeitstag zu ihrer eigenen Ehrung verlesen sollte. Sie wollte erwähnen, von einer Familie abzustammen, die Opfer des Massenmordes geworden war. Der Text war vor der Zeremonie gedruckt und verbreitet worden. Die Türken erfuhren davon. Die Broschüre wurde eingestampft und die Lehrerin durfte lediglich erwähnen, Armenierin zu sein.
"Nicht allein den Historikern überlassen"
Oron sagte: "Es gibt Dinge, die wir den Historikern überlassen können. Aber es gibt auch Dinge, für die wir die Verantwortung übernehmen sollten. Wir können es doch nicht allein den Historikern überlassen, herauszufinden, was in diesem oder jenem Dorf passiert ist." Als Mensch, als Jude und als Israeli empfehle er, den Armenierholocaust nicht mehr zu ignorieren. "Wir schulden es dem armenischen Volk und noch viel mehr uns selber, darüber Rechenschaft abzulegen." Es gebe zu viele Ähnlichkeiten des armenischen mit dem jüdischen Holocaust. Oron verwarf das gelegentlich in Israel gehörte Argument, wonach eine Anerkennung des Holocaust an den Armeniern den Holocaust an den Juden relativiere oder verkleinere.
Gesundheitsminister Jakob Ben Isri (Greisenpartei) antwortete im Namen der Außenministerin Zipi Livni: "Die Menschheitsgeschichte ist gepflastert mit traumatischen Ereignissen. Die Größe des Menschen liegt in der Fähigkeit, eine bessere Welt aufzubauen, ohne die Narben der Vergangenheit zu vergessen, aber auch ohne dass sie (die Narben) Besitz von der Gegenwart ergreifen." Erste Zwischenrufe kamen auf. "Als Juden und Israelis haben wir eine besondere moralische Pflicht, an menschliche Tragödien zu erinnern, darunter auch an die Tötungstaten an Armeniern im ersten Weltkrieg von 1915 bis 1916, den letzten Jahren des Osmanischen Reiches."
Ben Isri fuhr fort: "Jede Seite führt Argumente über die historische Richtigkeit der Ereignisse an. Die Erforschung der Ereignisse muss mit einer öffentlichen Debatte vorangetrieben werden, begründet auf Tatsachen, und nicht mit Erklärungen oder Beschlüssen von uns Politikern." Die Abgeordnete Scheli Jechimovitsch (Arbeitspartei) rief zynisch dazwischen: "Gibt es nicht auch zum jüdischen Holocaust solche, die da Fragen zu den historisch korrekten Details stellen?" Unbeirrt hoffte der Minister "auf einen offenen Dialog beider Seiten (Türken und Armenier), seit Jahrzehnten offen gebliebene Wunden zu heilen."
Ulrich W. Sahm, Jerusalem