"Von Völkermord kann keine Rede sein"

Der türkische Premier Recep Tayyip Erdogan, 56, über Ankaras Verhältnis zur EU, die Debatte um den Genozid an den Armeniern und seine Vermittlerrolle im Streit über Irans Atompolitik

SPIEGEL: Herr Ministerpräsident, Ihr Land bietet
derzeit ein
verwirrendes Bild. Es ist moderner und offener als vor Ihrem
Amtsantritt, und es ist gleichzeitig frommer und islamischer. Wohin
führen Sie die Türkei: nach Westen, nach Europa oder nach Osten?

 

Erdogan: Die Türkei hat sich in den vergangenen
siebeneinhalb
Jahren stark verändert und modernisiert. Wir nehmen, anders als die
vorangegangenen Regierungen, den Republikgründer Atatürk beim Wort und
versuchen, das Land auf den Stand der zeitgenössischen Zivilisation zu
bringen. Dabei schauen wir in alle Himmelsrichtungen - wir wenden uns
also nicht vom Osten ab, wenn wir nach Westen schauen. Wir sehen das als
einen Prozess der Normalisierung.

SPIEGEL: Das Erste, was ein Besucher nach der
Passkontrolle am
Flughafen in Istanbul sieht, ist die riesige Alkoholabteilung eines
Duty-free-Shops und ein Plakat, das für eine Ausstellung der freizügigen
Arbeiten des späten Picasso wirbt. In der Mittelmeerstadt Alanya
dagegen gibt es Hotels, an deren Stränden Männer und Frauen heute
getrennt baden - was vor Jahren undenkbar war.

Erdogan: Was Sie bei Ihrer Ankunft am Flughafen gesehen
haben,
ist ein schöner Ausdruck von Freiheit. Was Sie aus Alanya erzählen, höre
ich zum ersten Mal. Doch wenn es stimmt, dann ist auch das ein Beispiel
von Freiheit. Der Besitzer eines solchen Hotels und seine Gäste nehmen
ein Recht wahr, das wir respektieren müssen.

SPIEGEL: Diese Woche empfangen Sie Bundeskanzlerin
Angela Merkel,
die nicht möchte, dass die Türkei auf absehbare Zeit der Europäischen
Union beitritt. Was werden Sie ihr sagen?

Erdogan: Die Türkei hat 1959 ihren Antrag auf
assoziierte
Mitgliedschaft in der EWG gestellt. Das ist 51 Jahre her. Keinem anderen
Land ist eine solche Prozedur zugemutet worden. Trotzdem waren wir
geduldig. Heute aber sind wir kein Land mehr, das eine Mitgliedschaft in
der EU nur anstrebt - wir verhandeln bereits um diese
Vollmitgliedschaft. Wenn uns heute Vorschläge gemacht werden, die vom
verabredeten Rahmen dieser Verhandlungen abweichen

SPIEGEL: Sie meinen die "privilegierte Partnerschaft",
die Frau
Merkel einer Vollmitgliedschaft der Türkei vorzieht.

Erdogan: dann ist das genauso abwegig, als wenn Sie
mitten in
einem Fußballspiel die Elfmeterregeln ändern würden.

SPIEGEL: Ihre Regierung versucht, die Türkei als eine
neue
Regionalmacht aufzubauen. Wozu brauchen Sie Europa überhaupt noch?

Erdogan: Es geht nicht darum, was wir brauchen, es geht
um ein
gegenseitiges Bedürfnis. Die Türkei ist keine Last für Europa, im
Gegenteil: Sie nimmt der EU eine Last ab. Zusammen mit Spanien führen
wir die Uno-Initiative "Allianz der Zivilisationen" gegen den
Extremismus, davon profitiert Europa. Wir sind seit 1996 Mitglied der
Zollunion, wir erfüllen die politischen Kriterien, die in Kopenhagen
festgelegt wurden - ja, wir sind sogar näher daran, die ökonomischen
Maastricht-Kriterien zu erfüllen als manche EU-Mitgliedstaaten. Ganz zu
schweigen davon, dass wir Gründungsmitglied der OECD und seit 1952 in
der Nato sind. Das macht uns zu einer Brücke zwischen dem Westen und 1,4
Milliarden Muslimen.

SPIEGEL: Die Türkei ist sehr selbstbewusst geworden -
und Sie
gelten als der einflussreichste Politiker, den das Land seit Atatürk
hatte. Sehen Sie sich in der Rolle eines "Sultans", wie manche Anhänger
aber auch Kritiker Sie bezeichnen?

Erdogan: Ich bin der Vorsitzende einer Volkspartei -
und würde
mich deshalb nie mit Atatürk vergleichen, jenem Mann, der die Republik
gegründet hat. Ich habe keine Absicht, ein Padischah, ein Sultan, zu
werden. Es reicht mir, wenn die Leute gut über mich sprechen.

SPIEGEL: Warum erkennt die moderne Türkei den
Völkermord des
Osmanischen Reichs an den Armeniern nicht an? Der Auswärtige Ausschuss
des US-Repräsentantenhauses hat eine Resolution zu diesem Genozid
gebilligt

 

Erdogan: Wenn ein Journalist das Wort Völkermord
verwendet, dann
sollte er vorher genau hinsehen. Von einem Völkermord an den Armeniern
kann keine Rede sein, Völkermord ist ein juristischer Begriff. Ich habe
2005 dem damaligen Präsidenten Armeniens, Robert Kotscharjan, einen
Brief geschrieben und ihm darin mitgeteilt, dass dies keine
Angelegenheit für uns Politiker ist - sie muss von Historikern erforscht
werden. In türkischen Archiven gibt es dazu Millionen Dokumente, mehr
als eine Million davon wurden seither durchgesehen. Wenn es in Ihrem
Land Archive gibt, schrieb ich Kotscharjan, dann machen Sie die
zugänglich. Und wenn Historiker nicht ausreichen, dieses Thema zu
klären, dann lasst uns Juristen daran beteiligen,
Politikwissenschaftler, Archäologen.

SPIEGEL: Historikerkommissionen seien ein ideales
Mittel, solch
einen Streit endlos zu vertagen, sagen die Armenier. Und dass Politiker
nicht von Völkermord sprechen sollen, sehen wir anders. Einer, der
dieses Wort verwendet hat, ist der heutige amerikanische Präsident.

Erdogan: Wenn er dieses Wort benutzt hat, dann war das
auch von
ihm ein Fehler. Ein Wort wird nicht dadurch richtiger, dass es ein
Präsident verwendet. Im Übrigen sind die USA in dieser Angelegenheit
keine Partei. Amerika sitzt, wie die anderen Länder, in dieser Sache nur
auf der Tribüne. Beteiligt sind nur wir und Armenien. Das ist unsere
Geschichte. 1915 war die Türkische Republik noch nicht gegründet, es war
die Zeit des Osmanischen Reichs, das damals mit Deutschland verbündet
war.

SPIEGEL: Ist die Republik nicht der rechtliche
Nachfolger des
Osmanischen Reichs?

Erdogan: Die Türkei wurde zweifellos auf den Überresten
des
Osmanischen Reichs gegründet. Kein Volk kann seine Herkunft verleugnen;
wer seine Herkunft verleugnet, versündigt sich. Wenn nach der
historischen Aufarbeitung etwas Ernsthaftes ans Licht kommt, sind wir
bereit, uns unserer Geschichte zu stellen. Aber es ist wichtig, dass
auch die Armenier bereit sind, sich ihrer Geschichte zu stellen.

SPIEGEL: Welcher Geschichte sollen sich die Armenier in
dieser
Sache stellen?

Erdogan: Es handelte sich nicht um massenhaften Mord
der einen an
der anderen Seite, sondern um eine Schlacht. Dabei sind Türken
gestorben ebenso wie Armenier, die treue Bürger des Osmanischen Reichs
waren. Einige von ihnen wurden später aber vom Ausland gesteuert und
erhoben sich zu einem Aufstand. Das muss man sehr genau untersuchen.

SPIEGEL: Warum haben Sie diese schwierige Debatte jetzt
zusätzlich angeheizt und von einer möglichen Ausweisung aller illegal in
der Türkei arbeitenden Armenier gesprochen?

Erdogan: Es stimmt mich traurig, dass Sie das so sehen.
Ich habe
davon gesprochen, was wir machen könnten. Wir haben jahrelang Armenier
ohne Aufenthaltsgenehmigung geduldet. Dies müsse nicht immer so sein -
mehr habe ich nicht gesagt. In aller Welt wird offen über das Problem
illegaler Arbeiter diskutiert - wenn aber die Türkei eine solche
Erklärung abgibt, fühlt man sich gestört. Warum?

SPIEGEL: Warum bestrafen Sie Armenier in der Türkei für
Genozid-Resolutionen, die im Ausland verabschiedet werden - in den USA
und zuletzt in Schweden?

Erdogan: Wer sagt denn, dass wir die Armenier dafür
verantwortlich machen? Ich habe das nie behauptet. Vor einem Jahr haben
wir einen Annäherungsprozess zwischen der Türkei und Armenien begonnen.
Wir wollen unsere Beziehungen normalisieren. Und da fasst der Auswärtige
Ausschuss im US-Kongress plötzlich auf Befehl der armenischen Diaspora
einen Beschluss, der die Ereignisse von 1915 als Genozid bezeichnet. Das
hilft niemandem. Wir wenden uns an die armenische Diaspora und jene
Länder, die die Diaspora unterstützen: Es gibt in der Türkei Armenier,
die Staatsbürger sind, und solche, die illegal in unserem Land leben.
Bis heute haben wir die Frage der Ausweisung nicht in Betracht gezogen,
aber wenn die Diaspora weiterhin Druck macht, könnten wir uns dazu
imstande sehen.

SPIEGEL: Sie wehren sich gegen den Begriff Genozid,
benutzen ihn
selbst aber vielfach. Israel zum Beispiel werfen Sie einen Genozid im
Gaza-Streifen vor. Sudans Staatspräsidenten Umar al-Baschir wiederum
verteidigen Sie mit den Worten, ein Muslim könne gar keinen Genozid
begehen. Sind Muslime etwa bessere Menschen als Juden oder Christen?

Erdogan: Sie reißen die Wörter völlig aus dem
Zusammenhang. In
diese Falle tappe ich nicht. Ich habe gesagt, dass man die Ereignisse in
Gaza gewissermaßen als Genozid bezeichnen könnte: 1400 Menschen sind
dort gestorben, viele durch Phosphormunition, mehr als 5000 Menschen
wurden verletzt, 5000 Familien obdachlos.

SPIEGEL: Und im Fall des Sudan?

Erdogan: Da habe ich von einem Prinzip gesprochen. Ich
bin
Muslim. Aber ich habe meine Religion nie mit anderen Religionen
verglichen. Ich habe gesagt, dass ein Muslim einen Völkermord, so wie
ihn die Vereinten Nationen definieren, nicht begehen kann. Der Islam ist
eine Religion des Friedens. Die Muslime glauben: Wer einen unschuldigen
Menschen tötet, der handelt so, als hätte er die gesamte Menschheit
getötet.

SPIEGEL: Zurzeit sitzt die Türkei als nicht-ständiges
Mitglied im
Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, außerdem ist sie als jenes Land
im Gespräch, über das ein Austausch von in Iran angereichertem Uran
erfolgen könnte. Werden Sie Sanktionen gegen Teheran unterstützen? Die
IAEA, die Internationale Atomenergiebehörde, hat Zweifel an der
friedlichen Natur des Atomprogramms.

Erdogan: Das ist falsch. Die IAEA hat so etwas nicht
festgestellt.

SPIEGEL: In ihrem letzten Bericht heißt es
ausdrücklich, dass
Teheran nicht hinreichend kooperiert hat, um eine nicht friedliche
Nutzung auszuschließen.

Erdogan: Das sehe ich anders. Iran hat angeboten, sein
angereichertes Uran ins Ausland zu bringen, im Gegenzug haben die Iraner
nuklearen Brennstoff verlangt. Die Frage ist nun, wo dieser Tausch
stattfinden soll. Der ehemalige IAEA-Direktor Mohamed ElBaradei schlug
die Türkei dafür vor. Dem haben die Amerikaner zuerst nicht zugestimmt,
dann waren sie einverstanden. Nun warten wir auf eine Antwort Irans.
Iran schien diese Möglichkeit in Betracht zu ziehen, doch dann riss
diese Verbindung ab.

SPIEGEL: Wenn sich Iran weigert, werden Sie dann
Sanktionen
unterstützen?

Erdogan: Wir müssen zuerst versuchen, eine
diplomatische Lösung
für das Problem zu finden. Schon mehrfach wurden Sanktionen gegen Iran
beschlossen, aber was ist das Ergebnis? Gelangen jetzt etwa keine
amerikanischen, keine deutschen Waren nach Iran? Auf indirektem Wege
schon. Natürlich gibt es Mercedes in Iran. Es gibt Peugeot. Ich spreche
gern offen. Ich hasse es, in der Politik Dinge zu verstecken. Was wir
hier brauchen, ist: Diplomatie, Diplomatie, Diplomatie. Alles andere
bedroht den globalen Frieden und bringt sonst gar nichts. Und haben
diejenigen, die Druck ausüben, nicht selbst Atombomben? Die Türkei ist
keine Atommacht, aber es gibt in dieser Region ein Land, das Atomwaffen
besitzt.

SPIEGEL: Sie meinen Israel.

Erdogan: Iran hat zurzeit jedenfalls keine Atomwaffen.
Wir sagen
ganz klar: Wir möchten überhaupt keine Atomwaffen in unserer Region.

SPIEGEL: Haben Sie das Präsident Mahmud Ahmadinedschad
genau so
zu verstehen gegeben?

Erdogan: Selbstverständlich. Ich spreche mit ihm
genauso offen,
wie ich mit Ihnen rede. In dieser Region möchten wir keine Atomwaffen.

SPIEGEL: Herr Ministerpräsident, wir danken Ihnen für
dieses
Gespräch.