Kloster Mar Gabriel

1600 Jahre lang überstanden die Mönche im Südosten der Türkei alle möglichen Gefahren - jetzt machen Nachbarn dem Kloster Mor Gabriel das Land und die Existenz streitig.

von Kai Strittmatter

Es ist nicht schwer, sich an diesem Ort zurückzuversetzen in die Zeit, da
alles begann. In der Ferne zerrt ein Maultier den Pflug durch den steinigen
Acker, auf dem Weg herauf begegnet uns ein Esel, den wir beinahe nicht als
solchen erkannt hätten, weil es so aussah, als treibe da ein Bauer mit der Rute
eine hoch aufgetürmte Scheunenladung Reisig alleine über die Straße. Noch immer
stehen innerhalb der Klostermauern Olivenbäume neben Pistazien, bauen Mönche
und Nonnen Weintrauben, Linsen, Weizen und Gerste an.

Viel anders wird es damals nicht gewesen sein, als sich von dieser Ecke der
Welt aus das Christentum aufmachte, zuerst Rom und dann Europa zu erobern. Am
Horizont leuchtet schneebedeckt der Berg Cudi, über den die Muslime sagen, hier
sei die Arche Noah gelandet. Oben auf dem Dach des Klosters steht der Abt und
Bischof, Timotheus Samuel Aktas, und blickt über die kahle Winterebene hinüber
zu jenen Dörfern, die ihm Bedrängnis und Kummer sind. "Das berührt einen
schon", sagt er. "Es ist eine Bedrohung."

Bischof Timotheus spricht nicht Türkisch und nicht Englisch,
obwohl er beide Sprachen fließend beherrscht. Er spricht die Sprache, die sein
Volk, die Assyrer, seit Jahrtausenden spricht: Aramäisch. Die Sprache, die auch
Jesus Christus gesprochen hat. Die Sprache, die heute nur mehr ein paar tausend
Menschen in Anatolien sprechen.

Dass dieses Kloster noch lebt, dass der Abt hier steht als Erbe einer fast
ununterbrochenen 1600 Jahre alten Tradition, das an sich ist schon ein Wunder.
Perser, Byzantiner, Araber, Mongolen, die Horden Tamerlans und die Türken sind
über dieses Land hinweg gezogen, haben erobert, unterjocht, gemetzelt und
regiert. Kloster Mor Gabriel aber blieb, an genau dem Ort, den sein Begründer,
der Heilige Samuel, ihm im Jahr 397 n. Chr. zugedacht hatte. Tur Abdin heißt
der Fleck, der heute an der Grenze zu Syrien liegt, "Berg der
Gottesknechte".

Noch heute lädt das Morgenläuten um Viertel nach Fünf die Mönche und Nonnen
zum Gebet in das Kirchengemäuer aus dem Jahr 512. Hier steht und atmet eine
Kirche älter als die Hagia Sophia, älter als jedes Kloster auf dem Berg Sinai,
älter als jede Kirche auf dem Berg Athos. Viele sind sie nicht mehr. Drei
Mönche noch und vierzehn Nonnen, die jetzt, zur Fastenzeit vor Weihnachten
Getreide, Salat und Linseneintopf zubereiten. Für die Gäste backen sie
Kokosmakronen, deren Duft durch die Gänge zieht. Von außen wirkt der auf einer
Anhöhe liegende Klosterbau, gemauert aus dem warmen Kalkstein der Gegend, wie
eine trutzige Burg. Ein Zufall ist das nicht. Für die Bewohner von Mor Gabriel
sind dies einmal mehr Tage, da sie um Schutz und Beistand beten.

Das vergangene Jahrhundert war nicht gut zu den Assyrern im Tur Abdin. Es
begann mit den Massakern von 1915, als sich die osmanische Armee und kurdische
Marodeure nach den Armeniern auch die Assyrer vorknöpften, die Mönche von Mor
Gabriel wurden damals umgebracht, bis heute erzählen sich die Assyrer die
Legenden vom heldenhaften Widerstand ihrer Vorväter im Wehrdorf Ein Wardo. Auch
in diesem Dorf sind heute die Kurden in der Mehrheit, die Muslime. Die
vergangenen hundert Jahre sind die Geschichte vom Verschwinden der Christen aus
dem Tur Abdin.

"Weniger und weniger sind wir geworden", Abt Timotheus seufzt.
Mehr als ein halbes Jahrhundert, seit seinem Eintritt ins Kloster 1961, war er
Zeuge des Exodus seiner Gemeinde. Am schlimmsten war es in den achtziger und
neunziger Jahren.

Bürgerkrieg. Auf der einen Seite die türkische Armee, auf der anderen die
kurdische PKK. Und zwischen den Fronten: die Christen vom Tur Abdin. Es wurde
geschossen, entführt, ermordet. "Wir wussten nie", sagt der Abt,
"ob wir den nächsten Tag noch erleben." Die Assyrer vom Tur Abdin
können alle Geschichten erzählen, von dem Priester, der lebendig begraben wurde
und nach vier Tagen wieder freikam, vom Bürgermeister, der umgebracht, von der
Cousine, die vor ihren Augen getötet wurde.

Mehr als 70.000 waren sie noch in den Siebzigern. Heute, sagt der Abt, zähle
er 1500 Mitglieder in seiner Gemeinde. In der Stadt Midyat, einst christliches
Zentrum der Region, leben noch 450. Viele zogen nach Istanbul, die meisten aber
gingen nach Deutschland und nach Schweden. Die Dörfer leerten sich. Kurden
zogen in viele der Häuser, nahmen sich brachliegendes Land.

Land. Besitz. Nicht selten geht es darum, wenn Menschen mit der Religion ins
Feld ziehen. Mit den Nachbardörfern, sagen sie im Kloster, hatten sie
eigentlich kein schlechtes Verhältnis. Auch viele Muslime pilgern hierher,
nehmen sich vom Grab des Heiligen Gabriel eine Handvoll Erde mit, um zu Hause
Dämonen und Krankheit zu vertreiben, lassen sich von den Nonnen mit heiligem
Wasser segnen, um endlich ein Kind zu bekommen.

Der jüngste Streit brach aus, als die Regierung im Rahmen der EU-Anpassung
2004 beschloss, die Landkataster neu zu erstellen. Nun streiten sie vor
Gericht, das Kloster, das Katasteramt und drei Nachbardörfer. Das Amt hat dem
Kloster schon Land aberkannt, die Dörfer wollen noch mehr. Viel mehr. Abt
Timotheus sitzt im Empfangsraum des Klosters. "Wenn es nach denen
ginge", sagt er und deutet auf seinen Stuhl, "dann verlören wir auch
noch den Fleck, auf dem wir jetzt sitzen."

Zehnjährige Kinder als Missionare

Der Abt zieht die Fotokopie einer alten osmanischen Urkunde hervor: Ein
Beleg für die Ländereien des Klosters. Es gibt andere Dokumente von 1937.
Juristisch steht das Kloster nicht schlecht da. Und doch steckt allen der
Schreck in den Gliedern. Den Mönchen hier wie den verbliebenen Christen in den
Dörfern. Und das liegt an einer der Anzeigen, mit denen die Nachbarn vor
Gericht zogen.

Da war nämlich in zehn Punkten nicht bloß von Land die Rede. Da hieß es,
dass das Kloster Land besetze, auf dem es zuvor eine Moschee zerstört habe.
Dass es zehnjährige Kinder als Missionare ausschicke. Dass Abt und Mönche das
Vaterland spalten wollten. In ihrem Brief an den Staatsanwalt schreibt das
kurdische Dorf Eglence (zu deutsch "Spaß"): "Ihr seid doch
Enkelkinder des Sultans Mehmet, der gesagt hat: ,Wer im Wald auch nur einen Ast
abschneidet, dem trenne ich den Kopf ab.? Wir wollen ja gar nicht, dass Ihr dem
Bischof den Kopf abtrennt, Ihr sollt nur seiner Plünderung Einhalt
gebieten." Da gefriere einem das Blut in den Adern, kommentierte die
liberale Zeitung Radikal.

"Eine Moschee zerstört?", sagt Kyriakos Ergün, der Vorsitzende der
Stiftung, die das Kloster verwaltet. "Unser Kloster war hier ein paar
Jahrhunderte, bevor der Islam überhaupt existierte." Die angeblichen
Kindermissionare? Das Kloster beherbergt 40 Kinder von Assyrern. Morgens gehen
sie in die staatliche Schule von Midyat, nachmittags erhalten sie Unterricht in
Turoyo, dem aramäischen Dialekt des Tur Abdin. Man könnte die Liste von
Anschuldigungen als lächerlich abtun, wenn nicht in weiten Teilen der Türkei
solche Propaganda noch immer für bare Münze genommen würde, mit manchmal
schrecklichen Folgen: Der katholische Priester Andreas Santoro in Trabzon 2006,
die drei Protestanten von Malatya 2007 - sie wurden von
nationalistisch-religiösen Türken ermordet.

Nach dem Motiv befragt, sagten die Täter danach jeweils: Es waren
Missionare, sie wollten die Türkei spalten. "Man macht uns zur
Zielscheibe", glaubt Stiftungsvorsitzender Ergün. "Sie wollen uns
einschüchtern. Wer hier geblieben ist, soll sich ducken. Und unsere Leute aus
Europa will man von der Rückkehr abschrecken."

Die Rückkehrer. Es gibt sie. Wer sich in den Dörfern der Umgebung umschaut,
der sieht frisch renovierte Häuser. Der trifft Leute, die antworten
"Berlin" oder "Paderborn" auf die Frage, woher sie seien.
Fikri Turan, der Vorsteher des Dorfes Sari, hat seine Familie in Gütersloh
zurückgelassen, um sein altes Dorf wieder aufzubauen. "Die Mauern",
sagt er, "sind höher und fester als früher."

Auf den Türen ein Kreuz. Der Kirchturm frisch renoviert, eine Spende einer
Familie aus Istanbul. Fikri Turan wird den Winter allein hier verbringen und
auf sein Dorf aufpassen. "Die meisten trauen sich noch nicht. Wer weiß,
wie die Türkei sich entwickelt. Schauen Sie sich die Prozesse um das Kloster
an." Er nimmt einen Schluck Tee. "Ich würde lügen, wenn ich sagte,
ich hätte keine Angst."

Immer wieder ist die Rede von den mächtigen Agas, den kurdischen Großgrundbesitzern,
die noch in feudaler Manier über ihre Dörfer herrschen. Man müsse der Türkei
vermitteln, sagt Janet Abraham von der deutschen Solidaritätsgruppe Tur Abdin,
dass die Rückkehr der Christen für sie nur von Vorteil sei: Sie brächten
Know-how, Geld und Energie in eine massiv vernachlässigte Region. Abraham ist
eigens angereist, um den ersten Prozess zu verfolgen. "Die Menschen sind
ja auch Kinder dieses Landes. Wieso behandelt man sie nicht so?"

Drei Prozesse laufen nun. Immerhin: Von den zehn wild zusammen phantasierten
Punkten der einen Anzeige hat der Staatsanwalt lediglich den Streit um ein
Stück Wald zugelassen. Und das eine Verfahren, das zur Überraschung des
Klosters für den Heiligen Abend angesetzt war, wurde verlegt in den Januar. Um
die Katasteramts-Grenzziehung wurde schon vergangenen Freitag gestritten.
"Unsere Bauern sind für den Frieden", sagt Metin Kilic, der Anwalt
der Gegenseite, "aber wir gehen bis zum bitteren Ende."

Mahmut Güney ist einer der Bauern von Yayvantepe, jenem Dorf, das mit
aramäischem Namen einst Quartmin hieß. Er sagt, das Kloster wolle ihm sein Land
wegnehmen. Dann deutet er auf die Prozessbeobachter, Parlamentarier, angereist
aus Schweden. "Warum sind diese Leute aus Europa hier? Wir sollten das
unter uns erledigen", sagt er. Und dann: "Die haben kein Recht,
Muslime und Christen gegeneinander aufzuhetzen."