"Die Türkei will ihre letzten Aramäer vertreiben"

Nicht als Minderheit anerkannt: Das Kloster Mor Gabriel, geistliches Zentrum der Christen-Gemeinschaft, wird mit Prozessflut überzogen

Aramäer sind die einzige christliche
Gemeinschaft, in der noch die Sprache Jesu gesprochen wird. Nun versucht der
türkische Staat, das geistliche Zentrum der türkischen Aramäer mit juristischen
Tricks in die Knie zu zwingen. Heute findet ein erster Gerichtstermin statt.
Till-R. Stoldt sprach mit dem Rechtsanwalt David Gelen, dem Vorsitzenden der
Föderation deutscher Aramäer und der "Aktion Mor
Gabriel".

DIE
WELT:

Herr Gelen, wie werden die
aramäischen Christen dieses Jahr Weihnachten
begehen?

David
Gelen:

Mit großer Sorge, weil rund um die
Weihnachtswoche in der Türkei drei Gerichtsverhandlungen stattfinden, bei denen
die Zukunft der Aramäer im Land auf dem Spiel stehen
könnte.

Warum?

Gelen:

Weil das 1600 Jahre alte Kloster Mor
Gabriel, das geistliche Zentrum der Aramäer im Südosten der Türkei, nun mit
einer Flut von Prozessen überzogen wird, in deren Folge auch noch die letzten
aramäischen Christen vertrieben werden könnten.

Wie viele Aramäer gibt es noch in
der Südosttürkei?

Gelen:

In den 60er-Jahren waren es rund 200
000, heutzutage sind es vielleicht 2000. Und deren Verbleib steht und fällt mit
der Existenz des Klosters. Wird erst der Bischof vertrieben, zerstreuen sich
auch die letzten Gläubigen in der Region Tur Abdin - die einst ein Zentrum der
aramäischen Gemeinschaft war.

Worum geht es in den
Prozessen?

Gelen:

Zum einen haben die Dorfvorsteher
der umliegenden muslimischen Dörfer das Kloster angezeigt, weil es
Klosterschülern den christlichen Glauben und das Aramäische
...

... also die Sprache Jesu
...

Gelen:

... beibringe. Damit versuche das
Kloster zu missionieren. Diesen Vorwurf hat die Staatsanwaltschaft vorläufig
noch nicht in ihre Anklage aufgenommen. Zum Zweiten klagen die Dorfvorsteher,
das Klosterland müsse enteignet und an die Dörfer aufgeteilt werden. Außerdem
müsse die Schutzmauer des Klosters abgerissen werden, die Anfang der 90er-Jahre
errichtet wurde, nachdem das Kloster im Krieg des Militärs mit der PKK zwischen
die Fronten geriet.

Wie wird die Anklage
begründet?

Gelen:

Unter anderem soll genau auf dem
Boden, auf dem das Kloster steht, einst eine Moschee abgerissen worden sein, um
Mor Gabriel zu errichten.

Wann ist das Kloster gebaut
worden?

Gelen:

397 nach
Christus.

Also rund 200 Jahre bevor der
Prophet Mohammed auftrat und bevor Moscheen gebaut werden
konnten.

Gelen:

Darüber amüsieren sich auch liberale
türkische Medien. Der Vorwurf ist absurd! Aber leider ermittelt die
Staatsanwaltschaft trotzdem allen Ernstes, ob er stimmen
könnte.

Das weckt nicht gerade Vertrauen in
die Neutralität der türkischen Staatsanwaltschaft.

Gelen:

Das soll es wohl auch nicht. Wir
verstehen die Prozesse und Ermittlungen als Teil einer Einschüchterungskampagne
gegen die rund 70 Klosterbewohner. Der Bischof, aber auch die Mönche und Nonnen
werden immer stärker von Dorfbewohnern bedroht, sie sollten nicht wagen, zu den
Gerichtsverhandlungen zu kommen und sich zu verteidigen. Die Mönche und Nonnen
trauen sich seitdem kaum mehr vor die Schutzmauer des
Klosters.

Was bezwecken die
Drohungen?

Gelen:

Es sollen auch noch die letzten
Aramäer aus der Region vertrieben werden, die allen Repressalien zum Trotz in
ihrer Heimat ausharren.

Welche Erfolgsaussichten haben die
Klagen?

Gelen:

Ungünstig für das Kloster könnte
sich auswirken, dass Aramäer im Gegensatz zu Griechen oder Armeniern nicht als
religiöse Minderheit anerkannt sind, obwohl sie seit Jahrtausenden auf dem Boden
der heutigen Türkei leben.

Warum wurde die Anerkennung
verweigert?

Gelen:

Vermutlich, weil die aramäische
Gemeinschaft stets schwächer organisiert und viel unpolitischer war als andere
Minderheiten. Deshalb ist ihr Rechtsstatus heutzutage noch unsicherer als der
anderer christlicher Gemeinschaften.

Mit welchen
Folgen?

Gelen:

Wer nicht als religiöse Minderheit
anerkannt ist, darf in der Türkei nicht auf Minderheitenrechte hoffen, darf
keinen Nachwuchs ausbilden und weder seinen Glauben noch seine Sprache an die
nächste Generation weitergeben. Insofern verstoßen die Nonnen und Mönche im
Kloster tatsächlich gegen türkisches Recht, weil dort zumindest in bescheidenem
Umfang der christliche Glaube und das Altaramäische gelehrt
werden.

Also ist das Kloster ein Hort der
Straftäter, weil dort das Menschenrecht auf Religionsfreiheit in Anspruch
genommen wird?

Gelen:

Ja, denn die Religionsfreiheit wird
zwar von der türkischen Verfassung garantiert. Aber wer als Minderheit nicht
anerkannt ist, existiert offiziell ja nicht. Diese sogenannten Rechtsbrüche in
Mor Gabriel werden von den örtlichen Behörden bislang aber
"geduldet".

Die Zukunft der aramäischen
Gemeinschaft hängt also von der Gutwilligkeit lokaler Behörden
ab.

Gelen:

Und das öffnet wiederum der Willkür
Tür und Tor. Der Staat kann dem aramäischen Kloster von einem Tag auf den
anderen den Betrieb schließen. Diese Unsicherheit bedeutet für die
Klosterbewohner eine manchmal schwer erträgliche
Belastung.

Schikane gegen Aramäer ist in der
Türkei ja kein neues Phänomen.

Gelen:

Leider. Noch in den 90er-Jahren
wurden immer wieder aramäische Dorfvorsteher, Ärzte und Anwälte durch
nationalistische oder religiöse Fanatiker exekutiert. Und diese Morde waren
stets mit der Aufforderung an die verbliebenen Aramäer verbunden, das
muslimische Land zu verlassen. Aber gerade weil es Kräfte gibt, die das Land von
Christen "reinigen" wollen, muss jeder Aramäer in der Region vorsichtig sein mit
der Klage darüber - er könnte ja das nächste Opfer
sein.

In den letzten drei Jahren kam es
mehrfach zu Morden an nicht aramäischen Christen in der Türkei. Wie wirkte das
auf die Aramäer?

Gelen:

Nach jedem Mord ging die Angst um.
Zumal den Attentaten stets eine Hetz- und Einschüchterungskampagne mit
Missionierungsvorwürfen vorausging - genauso wie wir sie jetzt gegen Mor Gabriel
beobachten.

Haben Sie trotzdem
Hoffnung?

Gelen:

Wir Aramäer hoffen nicht nur, wir
sind überzeugt, dass für den türkischen Staat die Zeit gekommen ist, die
kulturelle Vielfalt im Land zu akzeptieren und zu schützen - anstatt sie zu
bekämpfen. Jetzt muss die Türkei entscheiden, ob sie eine 1600 Jahre alte Kultur
erhalten oder auch noch die Reste ihrer nicht muslimischen Tradition auslöschen
will.